Auch marokkanische Arbeiter sind Staatsbahner

Sammelklage gegen die französische SNCF wegen Diskriminierung seit den 1970er Jahren

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
Es geht um Gleichbehandlung, um Gerechtigkeit nach Jahrzehnten und um eine Menge Geld. Vor dem Pariser Arbeitsgericht klagen marokkanische Arbeiter der SNCF auf Lohnnachzahlungen.

Eine Sammelklage von 849 Marokkanern gegen die französische Staatsbahn SNCF wird in dieser Woche vor dem Pariser Arbeitsgericht verhandelt. Aus Mangel an Arbeitskräften vor allem für die Unterhaltung und den Ausbau des Schienennetzes hat die SNCF in den 1970er Jahren auf der Grundlage eines 1963 zwischen Paris und Rabat abgeschlossenen Regierungsabkommens mehr als 2000 Marokkaner als Arbeitskräfte angeworben.

Sie erhielten aber nicht den Status von SNCF-Eisenbahnern, sondern einen privatrechtlichen Arbeitsvertrag - obwohl sie dann über viele Jahre dieselbe Arbeit zu verrichten hatten wie die französischen Kollegen an ihrer Seite. Die Klagen derer, die heute längst im Rentenalter sind, reichen zum Teil bis 2005 zurück und in rund 50 Fällen klagen die Nachfahren von inzwischen verstorbenen Arbeitern.

Ein erst 2014 angenommenes Gesetz ermöglichte es, die vielen einzelnen Fälle zu einer Sammelklage zusammenzufassen, die mehr Gewicht hat und mit mehr öffentlicher Aufmerksamkeit rechnen kann. Dass sich jetzt Berufsrichter mit dem Fall beschäftigen müssen, liegt daran, dass sich die zunächst angerufenen ehrenamtlichen Schiedsgerichte (Prudhommes), die durch Vertreter aus Unternehmen und Gewerkschaften besetzt sind, nicht einigen konnten.

»Wir wollen keine Almosen, sondern Gerechtigkeit und Gleichbehandlung«, meint der 66-jährige Ksioua Ghaouti. Kern des Problems ist der beamtenähnliche Status der SNCF-Eisenbahner, der seinerzeit Mitarbeitern französischer Staatsangehörigkeit vorbehalten war und der inzwischen auf Bürger der anderen EU-Mitgliedsländer ausgeweitet wurde. Dass die SNCF daneben Mitarbeiter ohne diesen Status einstellen kann, ist seit vielen Jahren gesetzlich möglich und wird von der Staatsbahn immer mehr praktiziert, weil es billiger ist und weil man diese Mitarbeiter bei Bedarf leichter wieder entlassen kann. Doch zu den Grundsätzen des französischen Arbeitsgesetzbuches gehört, dass Beschäftigte, die dieselbe Arbeit verrichten, auch gleich behandelt und entlohnt werden müssen. Doch genau das geschah bei den mehr als 2000 Marokkanern nicht, und dies in erschreckendem Maße.

Nicht zuletzt weil ihre Betriebsangehörigkeit niedriger eingestuft und ihre Aufstiegschancen blockiert wurden, erhielten sie nicht nur niedrigere Löhne und später entsprechend niedrigere Renten, sondern diese Schere wurde mit den Jahren immer größer. Hinzu kamen viele mehr oder weniger große Benachteiligungen. So waren für sie Freifahrten mit der SNCF auf den Weg zur Arbeit beschränkt, während ihre französischen Kollegen mit der ganzen Familie kostenlos auch in den Urlaub fahren konnten.

Nur etwa die Hälfte der betroffenen Marokkaner konnte später die französische Staatsangehörigkeit erwerben, doch das änderte nichts an ihrer Situation. Um noch »SNCF-Eisenbahner« zu werden, waren sie längst zu alt, denn dafür beträgt das Höchstalter 30 Jahre.

Für die SNCF geht es in dem Prozess nicht nur um den Imageverlust in der Öffentlichkeit, sondern auch um sehr viel Geld. Jeder der klagenden »Chibanis« (»Weiße Haare« auf Arabisch), wie man die Alten in ihrer Umgebung respektvoll nennt, fordert im Schnitt 400 000 Euro Schadenersatz. Das würde sich auf fast eine Milliarde Euro summieren, und auch andere ausländische Arbeiter der SNCF könnten ihrerseits noch klagen und sich dabei auf diesen Prozess berufen.

Doch schon seinerzeit war das Geld der Hauptgrund für die SNCF, ihre Arbeiter so unterschiedlich zu behandeln. Der Direktor für Soziale Fragen Jean-Yves Mareau hat es 2006 in einer Beratung zu diesem heiklen Thema Gewerkschaftsvertretern gegenüber deutlich ausgesprochen: »Die Staatsangehörigkeitsklausel aufzuheben und diesen ausländischen Arbeitern den Status von Eisenbahnern zu geben, würde uns jährlich 70 Millionen Euro mehr kosten. Das entspricht etwa dem, was wir pro Jahr für Lohnerhöhungen zur Verfügung haben.« Das erklärt vielleicht, warum das Anliegen der »Chibanis« nie von den Gewerkschaften aufgegriffen und verteidigt wurde.

»Wir mussten uns immer allein schlagen und werden das auch weiter tun«, meint Ksioua Ghaouti. »Wenn wir jetzt in Paris kein Recht bekommen, ziehen wir mit unserer Klage nach Straßburg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.«

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