Die Currywurst und die Lügen

Uwe Timm wird 75 und offeriert einen Essay-Band

  • Uli Gellermann
  • Lesedauer: 4 Min.

Ob Uwe Timm sich 1974, als er seinen ersten Roman veröffentlichte, vorstellten konnte, dass er später einer der Großen deutscher Literatur werden würde? »Heißer Sommer« hieß sein Erstling und ist einer der wenigen literarischen Zeugnisse der 68er Bewegung, jenem Frühling westdeutschen Aufbegehrens dessen Hoffnung auf ein anderes, ein besseres Deutschland bis heute Spuren hinterlassen hat. Dass Timms Texte einmal ins Englische, Französische, Russische und andereuropäische Sprachen übersetzt werden würden, wird er sich damals kaum erträumt haben. Denn seine Träume, soweit sie in seinen Büchern öffentlich wurden, waren selbst in Momenten größter Privatheit zumeist den Verhältnissen gewidmet, in ihnen zugleich den Einzelnen, deren Besonderheiten er liebevoll, sprachmächtig und geschichtsbewusst aus der Gesellschaft heraus verstand, auch um sie zu bessern.

»Sie wollen uns die Currywurst wegnehmen«, titelte die »Hamburger Morgenpost« damals in Erwiderung einer als räuberisch empfundenen Attacke der Berliner BZ, als Uwe Timm mit seiner 1993 erschienenen Novelle »Die Entdeckung der Currywurst« versehentlich eine Fehde zwischen den beiden Städten auslöste, Denn beide nehmen für sich in Anspruch, eben diese Wurst mit Soße erfunden zu haben. Nachzulesen ist diese kuriose Nachwirkung eines Romans im Essayband »Montaignes Turm«, der pünktlich zum 75. Geburtstag des Schriftstellers erschien.

Timms Currywurst ist die Randerscheinung einer poetischen Novelle. Erzählt wird von Lena Brückner aus Hamburg, die einen Deserteur verbirgt und ihm das Kriegsende verschweigt, um ihn bei sich zu behalten. Erst als sie die ersten Fotos ermordeter Juden in den Nach-Nazi-Zeitungen sieht, kann sie nicht mehr an sich halten und schreit ihren jungen Geliebten an, dass der Krieg verloren ist. Die frühen Tage der Befreiung sollten kleine und große Lügen beenden und zugleich die neue Lüge anspinnen, jene von der Stunde Null.

Keine Stunde Null wollte der Schriftsteller Timm dem deutschen Imperialismus für das Jahr 1945 zugestehen: Mit dem 1978 erschienenen Roman »Morenga« über den Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwest-Afrika grub er an jenen frühen Wurzeln von Rassismus und Militarismus, aus denen zwei deutsche Weltkriege wuchsen und auch die industrielle Vernichtung der europäischen Juden.

Auf andere Weise hat er sich in einem weiteren Buch der langen deutschen Blutspur erinnert: In der autobiografischen Erzählung »Am Beispiel meines Bruders« geht es um seinen Bruder Karl-Heinz, der sich freiwillig zur SS gemeldet hatte, und auch um den Vater, Hans Timm, der als Mitglied eines Freikorps im Baltikum gegen die »Bolschewisten« kämpfte. Auf leisen Sohlen des Verschweigens kam die Stunde Null daher: »... eines Tages, redeten die Erwachsenen auf mich ein, verboten mir, was ich doch eben erst gelernt hatte: die Hacken zusammenzuschlagen. Und Heil Hitler zu sagen. Hörst du. Auf keinen Fall! Das wurde dem Kind leise und beschwörend gesagt. Es war der 23. April 1945, und die amerikanischen Soldaten waren in die Stadt eingerückt.«

Mit einer »Reise an das Ende der Welt« endet dieser Essay-Band von Uwe Timm. Bis dahin ist immer wieder die sorgsame Sprache dieses Autors zu erleben, seine sichere Ruhe in der Beschreibung von Wirklichem und Gedachtem: vom »Zwischenreich der Märchen« über die deutsche Sprache und deren Dialekte, mit einem langen, wunderbaren Kleist-Zitat, das dem Konjunktiv der deutschen Literatur seinen bedeutsamen Platz einräumt, bis zum erneut gelesenen »Zauberberg« von Thomas Mann, in dem das im Buch entdeckte Begehren auf Timms jüngsten Roman »Vogelweide« weist.

Am beeindruckendsten wohl des Autors Bericht von seinen Erlebnissen im Oktober 2014 im Flüchtlingslager Darfur in der Republik Tschad. Die »Reise ans Ende der Welt« ist nicht primär geografisch zu begreifen. Timm sieht den zweiten Sieg des globalen Kapitalismus über seine ehemaligen Kolonien, wenn er notiert, dass die EU hochsubventionierte Lebensmittel in die afrikanischen Regionen exportiert, »wo sie fast um die Hälfte billiger sind als die dort erwirtschafteten. Das ruiniert die Bauern. Woraufhin sich abermals verarmte Menschen in den Strom derer, die nach Europa drängen, einreihen.«

Einmal, am Rande des Lagers, entdeckt Uwe Timm eine starke Frau, die nach der Flucht aus dem Sudan eine Art Imbiss eröffnet hat und ohne Wehleidigkeit überlebt. Sie erscheint Uwe Timm wie eine sudanesische Frau Brückner, besagter Entdeckerin der Currywurst. Dieser von Timm erfundenen Figur ist übrigens in Hamburg eine Gedenktafel gewidmet. So stark und manchmal auch seltsam kann Literatur wirken.

Üblich ist es, dass sich der Gefeierte zu seinen Geburtstag etwas wünschen kann. Vom Üblichen abweichend wünschen uns von Uwe Timm mehr und neue Bücher, die den Zuständen zu anderen Umständen verhelfen könnten.

Uwe Timm: Montaignes Turm. Essays. Kiepenheuer & Witsch. 192 S., geb., 16,99 €.

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