Schwarzer Klee im Dreieck
In Hamburg wurde ein »Zentralrat der Asozialen« gegründet - er soll an NS-Opfer erinnern
Im Hamburger Stadtteil Farmsen blüht jetzt ein wenig mehr Schwarzer Klee. Es sollen »keine Monumente, aber sehr viele hartnäckige Halbschattengewächse« an die Verfolgung sogenannter »Asozialer« zur Zeit des NS-Regimes erinnern, erklärt der Performancekünstler Tucké Royale. In den Konzentrationslagern der Nazis mussten »Asoziale« einen schwarzen Winkel tragen, deshalb ist der Klee als »botanische Gedenkform« im Dreieck gepflanzt - auf dem Gelände des Wohnverbundes »fördern und wohnen« in Hamburg-Farmsen. Wo heute Wohnungslose und Flüchtlinge untergebracht sind, lag 1938 ein »Versorgungsheim«, in dem rund 1500 »Asoziale« zur Zwangsarbeit eingesperrt waren.
Am 18. März gründete Tucké Royale in der Hamburger Theaterfabrik Kampnagel den »Zentralrat der Asozialen in Deutschland« (ZAiD). 70 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus ist der Rat keine Opfervereinigung, sondern ein Kunstprojekt, ein »Pre-Enactment«. Während das geläufige »Re-Enactment« die Nachinszenierung historischer Ereignisse - etwa Kriegsschlachten - meint, bezeichnet »Pre-Enactment« die künstlerische Vorwegnahme einer erst potenziellen Wirklichkeit. »Wir spielen den Zentralrat, bis es ihn gibt«, erklärt Royale, der als »Erster Sprecher« der Organisation fungiert.
»Die Frage ist«, führt Royale aus: »Wie hätte diese Gruppe jemals für sich selbst sprechen können?« Ihm schwebt eine »Vernetzung von Institutionen, Gedenkstätten und Arbeitsgruppen« vor, um materielle und immaterielle Entschädigungsforderungen für die Betroffenen und ihre Angehörigen zu realisieren. »Solange uns niemand ablöst, werden wir das weiter machen«, kündigt Royale an: »Ich bin bereit, das noch Jahre zu tun.«
Neben der Diskussion, ob der Zen-tralrat überhaupt für die heterogene Gruppe mit der Fremdzuschreibung »Asoziale« sprechen dürfe, hat die Gründung vor allem eine Frage aufgeworfen: Wie lassen sich unter Bezugnahme auf NS-Geschichte auch Ausgrenzungsmechanismen aktueller Sozialpolitik wie durch das Hartz-IV-System kritisieren, ohne durch Gleichsetzungen zur Banalisierung der faschistischen Verfolgung beizutragen? Während jener viertägigen Veranstaltung der Theaterfabrik Kampnagel berichtete auch die LINKEN-Bürgerschaftsabgeordnete und »Hartz IV-Rebellin« Inge Hannemann über ihre Erfahrungen als Jobcenter-Mitarbeiterin. Gemeinsam wurde eine schriftliche Einladung an Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles zur einer Diskussion über die aktuelle Arbeitsmarktpolitik im Berliner Maxim Gorki Theater verfasst. Dort macht der Zentralrat vom 30. April bis 2. Mai Station - rund um den »Kampf- und Feiertag der Arbeitslosen«, wie es in der Ankündigung heißt.
Die Gründung des Zentralrats stieß nicht überall auf Beifall. Der »Arbeitskreis Marginalisierte gestern und heute« kritisiert ihn als »selbstermächtigende Anmaßung, die politische Gedenkarbeit durch einen Pop-Kakao zieht«. Auch die Aneignung des Asozialen-Begriffs sehen die Zentralrats-Kritiker als problematisch an: »Dies verharmlost die tausendfachen Nazi-Morde an so genannten Asozialen auf Polizeiwachen, auf Straßen, in Wäldern, in Psychiatrien, in Konzentrationslagern, bei der Vernichtung durch Arbeit und in Tötungsanstalten.«
»Der Zentralrat soll keine Analogie herstellen«, antwortet Royale gegenüber dem »nd« auf die Kritik: »Es geht um Kontinuitäten und Diskontinuitäten.« Der Projektkünstler beschäftigt sich seit 2008 mit der Verfolgung »Asozialer«. Das Thema habe seinen »Gerechtigkeitszorn getriggert«, sagt der gebürtige Quedlinburger: »Auf Opferfarbtafeln über Häftlingskategorien in Konzentrationslagern steht sehr, sehr abseits: ›Asoziale - schwarzer Winkel‹. Der Begriff kam mir sehr dubios und reißerisch vor. Ich habe dann angefangen zu recherchieren und war verblüfft, wie divers diese Opfergruppe war.«
Die verfolgten »Asozialen« waren in der Tat eine höchst heterogene Opfergruppe. Der NS-Forscher Winfried Meyer zählt »Bettler, Obdachlose, Alkoholkranke, chronisch Kranke, Alkoholsünder im Straßenverkehr, Unterhaltsverweigerer, Prostituierte und Zuhälter, kriminelle und rebellische Jugendliche, sogenannte Arbeitsscheue und Fürsorgeempfänger, schließlich Zigeuner, womit sowohl Sinti und Roma als auch Menschen mit ›zigeunerischer‹ Lebensweise gemeint waren« auf, die im NS-Regime allesamt unter das oft tödliche Stigma fallen konnten.
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