Chile hat sein Versprechen gebrochen

Boliviens Sonderbeauftragter für die Meeresfrage, Carlos Mesa, über die Klage vor dem Internationalen Gerichtshof

  • Lesedauer: 5 Min.

Bolivien geht nach Den Haag zum Internationalen Gerichtshof, wo es gegen Chile auf einen Meereszugang klagt. Was fordert Bolivien?

Im internationalen Recht gibt es zwei wichtige Grundsätze. Einer ist die Pflicht zu Verhandlungen, jeder aggressiven oder kriegerischen Handlung vorangestellt, so schreiben es die Vereinten Nationen vor. Worauf Bolivien hier abhebt, sind zweitens die einseitigen Hoheitsakte von Staaten, sprich, die freiwillige Entscheidung eines Landes, einem anderen Land etwas Konkretes und Spezifisches anzubieten. Wenn ein Land auf formalem Weg einem anderen Land ein Versprechen gibt, ist dieses Versprechen rechtlich einklagbar. Also: »Du hast mir etwas versprochen, und ich verklage Dich, weil Du es nicht eingehalten hast.«

Was genau hat Chile Bolivien versprochen?

Chile hat sich formal dazu bereit erklärt, mit Bolivien in Verhandlungen zu treten, um ihm einen souveränen Meereszugang zu geben. Dafür bedarf es eines Dokumentes, das die Unterschrift eines Präsidenten, Außenministers oder Botschafters von Chile trägt. Genau das ist passiert, und zwar mehrfach. 1920, 1923, 1926, 1950 1961, 1975 und 1983 hat Chile das Versprechen abgegeben, mit Bolivien zu verhandeln. 1975 haben die Präsidenten (Diktatoren, d. Red.) Augusto Pinochet und Boliviens Hugo Banzer ein Abkommen geschlossen, um Verhandlungen aufzunehmen und Bolivien einen souveränen Meereszugang zu geben. Pinochet schickte Banzer einen Brief. Nach einem Treffen in Charaña an der chilenisch-bolivianischen Grenze sagte er: Ich hoffe, wir werden eine für beide Länder vorteilhafte Lösung für Boliviens Forderung finden. Und Chiles Außenminister Patricio Carvajal schickte ein offizielles Schreiben an seinen Botschafter in La Paz: Wir haben Boliviens Vorschlag erhalten, diesen geprüft, und wir sind bereit, mit Bolivien über die Erteilung eines Meereszugangs zu verhandeln. Sogar detaillierte geografische Ausführungen über den Meereszugang waren in dem Schreiben enthalten.

Worüber kann Den Haag befinden?

Dass Chile erstens die Pflicht hat, mit Bolivien zu verhandeln. Und zweitens mit dem Ziel, uns einen Meereszugang zu gewähren. Bolivien klagt keine Gebietsanspruch ein. Sondern nur dass Chile einhält, was es versprochen hat. Bolivien respektiert die internationalen Verträge und ist überzeugt, dass diese die Grundlage der internationalen Rechtsordnung sind. 100 Prozent der Klage fußen auf den einseitigen Hoheitsakten.

Warum ist für Bolivien ein Pazifikzugang überhaupt so wichtig?

Wie jedes Binnenland hat Bolivien die Möglichkeit, Waren im internationalen Handel über chilenische Häfen abzuwickeln. Es gibt Berechnungen des Ökonomen Jeffrey Sachs von 2005, die für alle Binnenstaaten gelten. Kosten für Bürokratie, Transport, Steuern und Zölle verursachen demnach im Jahr einen Verlust des Wirtschaftswachstums von ein bis 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Bolivien hatte mehr als ein halbes Jahrhundert lang eine Küste. 400 Kilometer lang und 120 000 Quadratkilometer Fläche, war also am Pazifik präsent. Heute ist Bolivien abhängig. Dabei ist das Pazifikbecken die wichtigste Region im Welthandel. Es ist etwas völlig anderes, ob ein Land mit dem Pazifik verbunden ist. Oder ob es ein Pazifikstaat ist, der internationale Verträge abschließen kann, mit einer eigenen Außenpolitik und Außenhandel. Nur mit einer Pazifikküste ist Bolivien ein eigenständiger Akteur in der wichtigsten Welthandelszone. Und die Entwicklung von Nord-Chile und West-Bolivien hängt voneinander ab, weil sich beide Länder wirtschaftlich ergänzen. Wir sind keine Konkurrenten, was Chile nicht hat, hat Bolivien und andersherum. Bolivien exportiert Energie und Wasser, überlebenswichtig für die chilenische Wirtschaft. Chile muss Energie aus Australien und Indonesien importieren. Vier Mal so teuer, als wenn es aus Bolivien Gas einführen würde, was aber wegen der ungelösten Frage nicht passiert.

Gibt es im Völkerrecht Urteile, bei denen eine Klage über einseitige Hoheitsakte zum Erfolg geführt hat?

Die gibt es! Die französischen Atombombentests im Südpazifik in den 1970er Jahren. Frankreichs Regierung hatte betroffenen Ländern deren Einstellung formal versprochen und das Versprechen gebrochen. Neuseeland und Australien haben 1974 vor dem Internationalen Gerichtshof geklagt, und sich auf die einseitigen Hoheitsakte bezogen. Den Haag entschied für Neuseeland und Australien, Frankreich musste die Tests einstellen. In den 1930er Jahren gab es den Streit zwischen Norwegen und Dänemark um Grönland. In einem Brief hatte Norwegens Außenminister anerkannt, dass Grönland historisch lange unter der Kontrolle Dänemarks stand, was ein entscheidendes juristisches Argument war, dass Dänemark den Streitfall gewann. Zuletzt haben Indien und Papua-Neuguinea auf die einseitigen Hoheitsakte geklagt.

Warum hat erst die aktuelle Linksregierung in La Paz diesen Rechtsweg eingeschlagen?

Dafür gibt es einen Grund:Dieser Rechtsweg wurde erst im Laufe der Jahre gestärkt, es handelt sich also noch um eine relativ junge Rechtsprechung. Die Entdeckung dieses Rechtswegs, der uns heute als belastbar erscheint, war für Bolivien auch neu. Vorgängerregierungen sind immer davon ausgegangen, den Vertrag von 1904 infrage zu stellen. Doch damit wäre das ganze Völkerrechtssystem infrage gestellt worden.

Wie argumentiert Chile?

Chile erkennt die Zuständigkeit des Gerichts nicht an. Sie sagen, Bolivien will den Vertrag von 1904 modifizieren, was die internationalen Grenzen infrage stellen würde. Leider sagt Chile hier nicht die Wahrheit. Sie halten sich an einem Argument fest, das nicht stimmt. Das Herzstück der bolivianischen Klage ist, wie gesagt das gebrochene Versprechen auf Verhandlungen. Das prüft Den Haag derzeit. Eine Entscheidung über die Zuständigkeit wird es wohl 2015 geben. Erklärt sich das Gericht für nicht zuständig, müsste Bolivien einen anderen Weg suchen. Bei Zuständigkeit muss Chile den Gegenbeweis für die einseitigen Hoheitsakte antreten, hier würde es 2018 ein Urteil geben.

Also am Ende der Amtszeit von Chiles Präsidentin Michelle Bachelet ...

Richtig. Und in Bolivien stehen im Dezember 2019 Präsidentschaftswahlen an. Im Fall von Evo Morales kann die Meeresklage also noch in seiner Amtszeit gelöst werden.

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