Die Zwangsarbeit gleich nebenan

Buchenwald kennt jeder - nun sind Jenaer Historiker den oft vergessenen kleinen NS-Lagern auf der Spur

  • Sebastian Haak, Jena
  • Lesedauer: 7 Min.
Auf einer unscheinbaren Gewerbefläche im Nordosten Jenas stand einst ein Zwangsarbeiterlager mit bis zu 950 Insassen. Solche »kleinen Lager« gab es viele in Deutschland - allein in Jena waren es 23.

Dieser Ort hat so viel mit Buchenwald zu tun - und ist doch ganz anders. Während in Buchenwald heute eine international anerkannte Gedenkstättenstiftung mit großem Aufwand die Erinnerung an einen Teil jenes Leids wach hält, das der Nationalsozialismus über die Welt brachte, gab hier bis vor einigen Monaten überhaupt keine Spuren dieses Grauens mehr. Mehrere kleinere und mittelgroße Autohändler stehen heute auf der Fläche, die vor sieben Jahrzehnten von einem elektrischen Zaun umgeben war. SS-Männer bewachten das Gelände. Zusätzlich Hunde. Hunderte waren damals hier zusammengepfercht, heute arbeiten auf dem Gelände höchstens ein paar Dutzend. Und das nicht allzu weit weg von der Innenstadt Jenas, der Paradies-Bahnhof der Stadt ist zehn, fünfzehn Gehminuten entfernt.

Auch hier im Nordosten der Universitätsstadt stand eines der Lager, die nicht nur in Jena zahlreich waren, als die Nazis über Deutschland und weite Teile Europas herrschten.

Lager - sie sind ein Signum des 20. Jahrhunderts. Aber obwohl schon vor mehr als zehn Jahren der belgische Historiker Joel Kotek gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Pierre Rigoulot ein in Fachkreisen angesehenes Buch über »Das Jahrhundert der Lager« publiziert hat, dominiert in der Öffentlichkeit noch immer die Vorstellung, dass die Nazis Menschen überwiegend an Orten wie Buchenwald - oder in der extremsten Form: in Auschwitz - festhielten, quälten, töteten. Gerade jetzt, 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, erfährt diese Vorstellung noch einmal Bestätigung. Auch, weil nicht wenige der Gedenk- und Erinnerungsveranstaltungen zum Kriegsende Buchenwald als einen zentralen Ort des Leidens ausmachen und dieses Lager zum Prototyp erklären wird. Unter anderem der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, wird nach Buchenwald kommen, dort innehalten, einen Kranz niederlegen. Die anderen Lager - oftmals freilich sehr viel kleiner - sind dagegen eher vergessen.

Jedenfalls bislang. Denn eine kleine Gruppe arbeitet seit einigen Jahren daran, die Geschichte solcher Orte aufzuarbeiten - im großen Stil in Jena, ansatzweise auch in anderen deutschen Städten. Menschen wie Jenas Stadthistoriker Rüdiger Stutz, der freiberufliche Historiker Marc Bartuschka oder die Leiterin des Bauarchivs in Jena, Katrin Fügner.

Vor den Autohäusern im Nordosten Jenas stehend, können Fügner, Stutz und Bartuschka lange und detailreich von der Geschichte dieses speziellen Orts erzählen - und dabei einen Einblick in die vielen Facetten der Geschichte der Lager Jenas geben - wobei dieser Blick von Unsicherheiten geprägt ist. Die Quellenlage, betont Bartuschka mehrfach, sei so schwierig, dass alle Angaben gerade zu Zahlen immer nur mit größter Vorsicht zu behandeln seien. Vielleicht, erzählen die Drei, hätten im Januar 1945 auf diesem Areal etwa 950 Menschen gelebt, vielleicht sei diese Größe aber auch schon eher erreicht worden. Als das Lager dann geräumt wurde und die Insassen auf einen Todesmarsch Richtung Tschechien aufbrechen mussten, seien dabei womöglich 100 von ihnen getötet worden. Vielleicht auch 200. Oder noch mehr.

Zahlenmäßig einigermaßen gesichert ist für die beiden Historiker und die Frau aus dem Archiv nur, dass es allein in Jena während des Zweiten Weltkrieges 23 Barackenlager gab, in denen je Dutzende oder aber eben sogar Hunderte eingesperrt waren: Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge. Zusätzlich, sagen sie, habe es viele weitere Immobilien gegeben, die zweckentfremdet wurden, um dort Menschen zwangsweise unterzubringen, Gasthöfe zum Beispiel. Alles in allem seien so während des Krieges an etwa 50 Standorten auf dem Stadtgebiet des heutigen Jena etwa 14 000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene untergebracht gewesen, dazu etwa 1000 KZ-Häftlinge sowie mehrere Hundert deutsch-jüdische Zwangsarbeiter. »Mindestens«, schiebt Bartuschka nach. Da ist wieder diese Unsicherheit über die Zahlen.

Mit ihren Nachforschungen durchkreuzen die Jenaer Forscher einmal mehr einen der zentralen Mythen der west- wie ostdeutschen Nachkriegsgeschichte. Jenen nämlich, nach dem die »einfachen Deutschen« nicht wirklich gewusst hatten, was »die Nazis« zwischen 1933 und 1945 in den Lagern taten. Im Großen ist dieser Mythos bereits entlarvt worden. Die Drei und ihre Mitautoren tun das nun auch im Kleinen, an einem lokalen Beispiel, das für viele oft besser nachvollziehbar ist als abstrakte Beschreibungen.

Tatsächlich nämlich müssen nahezu alle in Jena, in Thüringen, in Deutschland in den 1940er Jahren zumindest eine Vorstellung davon gehabt haben, was in NS-Lagern passierte; wenngleich die Details des industriellen Tötens in den Konzentrationslagern im Osten Europas vielleicht wirklich ein Geheimnis waren, das den meisten Deutschen erst nach Ende des Krieges offenbar wurde. Dass aber der alltägliche Horror der Lager den Deutschen nicht verborgen geblieben sein kann, dafür spricht schon, dass die Barackenlager in Jena nicht selten unmittelbar in der Nähe von Wohngebieten lagen. Fügner sagt, im Südviertel der Stadt habe es ein solches Lager gegeben, dessen Baracken weniger als 100 Meter von Wohnbauten entfernt gewesen seien, die dort in den 1930er Jahren errichtet wurden. »Von außen einsehbar waren diese Lager auf jeden Fall.«

Zudem, sagt Stutz, seien in all den Lagern ja Menschen eingesperrt gewesen, die als Arbeitskräfte in den Unternehmen der Region eingesetzt wurden - direkt neben den regulären Arbeitern. Bei den Großen wie Zeiss und Schott, in mittelgroßen Landwirtschaftsbetrieben und selbst in kleinen Fleischereien, Schustereien, in Fuhrunternehmen, in Baubetrieben. »Teilweise sogar als Haushaltshilfen«, sagt Bartuschka, »alle beschäftigten Zwangsarbeiter.« Das gelte für Jena, aber auch für viele andere Städte in Thüringen und ganz Deutschland. In Suhl und Altenburg, so Bartuschka, hätten während des Krieges jeweils mindestens 8000 Menschen unter Zwang gearbeitet, in Gotha mindestens 6500.

Wie sehr die Präsenz von KZ-Häftlingen, Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen in diesen und anderen Städten den Deutschen einen Blick in die Schreckenswelt der Lager vermittelt haben muss, ist eine der zentralen Erkenntnisse aus dem Projekt. In der zweiten Kriegshälfte nämlich waren deren Arbeits- und Lebensbedingungen demnach katastrophal - besonders, wenn es sich um Menschen aus Osteuropa handelte. Das, sagt Stutz, sei auch für Fachdiskussionen ein wichtiger Befund. In den vergangenen 25 Jahren habe häufig das Schicksal von westeuropäischen Zwangsarbeitern im Fokus gestanden, die in der ersten Phase des Krieges nach Deutschland gebracht worden seien. Deren Erfahrungen, sagt Stutz, seien aber völlig verschieden von denen zum Beispiel sowjetischer Kriegsgefangener oder polnischer Zwangsarbeiter ab etwa 1943. »Die Unterbringungsbedingungen für solche Menschen waren noch extremer, als wir das zu Beginn unserer Studie angenommen hatten«, resümiert Stutz.

Das Jenaer Lager, das dort stand, wo sich heute die Autohäuser befinden, ist ein Spiegel all dieser komplexen Verflechtungen und Entwicklungen, dieser auch in sich wechselvollen Geschichte der vergessenen Lager. Ein Spiegel dafür, wie das Lagersystem im Laufe des Krieges expandierte, wie immer mehr Menschen auf einer pro Kopf immer kleineren Fläche lebten, wie ihre Behandlung immer brutaler wurde, wie sehr die »normalen Deutschen« das Geschehen in und um diese kleinen Lager beobachten konnten.

Errichtet worden waren die Baracken im Nordosten Jenas 1940; zunächst, um hier etwa 50 Männer, Frauen und Kinder unterzubringen, die damals als Deutschstämmige aus Osteuropa »heim ins Reich« umgesiedelt worden waren. Ab 1942 wurden dann bis zu 250 russische Zwangsarbeiter in den Gebäuden interniert. Ende 1944 wurde aus dem Zwangsarbeiterlager ein Außenlager des KZ Buchenwald, in dem zunächst etwa 400 Häftlinge lebten, deren Zahl dann aber auf bis zu 950 stieg. Dreistöckige Holzpritschen standen da in den Baracken, in denen in der Regel die eine Hälfte der Insassen schlief, während die übrigen in einer Zwölfstundenschicht im Reichsbahnausbesserungswerk Jena arbeiten mussten, das direkt nebenan lag.

Als am 6. Januar 1945 zwei sowjetische KZ-Häftlinge in diesem kleinen Lager erhängt worden seien, sagt Bartuschka, hätten nicht nur die übrigen Eingesperrten des Außenlagers antreten müssen, um diesem grausamen Akt zuzusehen. Auch Angestellte des Werks hätten zugeschaut - freiwillig. Ebenso Mitarbeiter einer damals unmittelbar neben dem Lager befindlichen Brotfabrik.

Seit Oktober 2014 erinnert wenigstens eine kleine Stele an das Außenlager Buchenwalds in Jena - und damit an die Geschichte der vielen Menschen, die dort litten. An vielen anderen Standorten solcher kleineren Lager aber gibt es nicht einmal einen solchen Erinnerungsort.

Nicht in Jena. Und auch nicht ungezählten anderen Städten, die von solchen Lagern durchzogen waren.

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