»Ciao« in Linie 31N
Martin Leidenfrost wartet in Sizilien gemeinsam mit afrikanischen Flüchtlingen auf den Bus
Der Anblick der afrikanischen Männer ist mir vertraut. So wie ich sie nun in der sizilianischen Hafenstadt Trapani sehe, sah ich sie seinerzeit in der marokkanischen Hafenstadt Tanger: Im Frühling vor ausgeschalteten Springbrunnen versammelt, knöpfen sie ihre Winterjacken zu, während ich soviel Haut wie möglich in die Sonne halte. Was ich nun in Sizilien sehe, ist die Auslese junger Afrikaner, die nicht im Massengrab Mittelmeer starben. Mit etwas Glück entgingen sie dann noch Don Sergio, dem früheren Caritas-Direktor von Trapani, der Asylbewerbern als Mitglied der entscheidenden Kommission den Flüchtlingsstatus versprach. Dafür ließ sich der Pfarrer laut Staatsanwaltschaft von jungen Schutzbefohlenen im Auto befriedigen.
Ich will wieder eine Weile unter diesen Leuten sein, die ihr Leben für ein Leben in Europa riskieren. Nach den Horrorgeschichten ihrer Flucht will ich sie diesmal nicht fragen. Ich nehme den Bus zum berüchtigten Asylbewerberheim. Zwei EU-Abgeordnete bezeichneten die dortigen Schlafsäle 2011 als »Inferno«. 2014 verkündete der Präfekt die Schließung, dann wurde die Schließung verschoben. Am Tag meiner Busfahrt soll CARA Salinagrande endgültig geräumt werden.
Im 31N sind zwei Drittel der Fahrgäste in die Flüchtlingslager unterwegs. Der Bus passiert erst Wohnblöcke, dann Brachen, Seen, Olivenhaine, Hütten, Salinen - mehr Verbannung geht nicht. Ein Afrikaner sieht sich am Smartphone ein Video an. Ich erkenne darauf die Fußgängerzone von Trapani. Es sind nicht die Osterprozessionen drauf, die vom Nachmittag bis nach Mitternacht durch die enge Altstadt ziehen. Nicht die mit Blumen geschmückten, von Kerzen beleuchteten Madonna-Throne. Nicht die markerschütternde Totenmusik von 100 schwarz uniformierten Trommlern und Bläsern. Nein, der Afrikaners hat Alltag gefilmt, einfach nur weiße Menschen in der Stadt. Er saugt das Video mit gebanntem Lächeln ein.
Ich steige aus. Salinagrande ist ein Wohnvorort mit Leitplanken statt Bürgersteigen. Entsprechend rasen die Autos durch. Das Asylbewerberheim, in dem vorwiegend auf Lampedusa gelandete Afrikaner untergebracht sind, sieht wie eine Kaserne aus. Im Hof spielen die Afrikaner Fußball. Sie tragen meist Caritas-Klamotten. Oft laufen sie durch den Ort, allein, zu zweit. Sie telefonieren wenig, oft hören sie Musik aus Ohrstöpseln. Viele fahren auf alten Damenrädern oder Kinderrädern auf und ab. Einer joggt in flachen Jesusschlappen vorbei.
Die Haltestelle des 31N ist eine Stange mit der winzigen Aufschrift »Haltestelle«. Es gibt keinen Fahrplan. Da der Bus nur alle paar Stunden fährt, beginne ich nach der Abfahrtszeit zu fragen. Den EU-Abgeordneten präsentierte man CARA seinerzeit als »Avantgarde-Zentrum, in dem die Gäste Italienisch studieren«. Ich spreche die Leute auf Italienisch an, von den Asylbewerbern spricht es aber keiner. Nur ein Wörtchen hat sich bei allen Nationalitäten durchgesetzt: »Ciao.«
Um 19.10 Uhr antwortet mir ein Ghanaer in vornehmem Kofi-Annan-Englisch: »Der Bus kommt gleich.« Die Haltestelle befindet sich vor einer roten Villa mit reich verästelten Palmen. Ich setze mich auf den rot gestrichenen Betonblumentopf davor. Der nächste Ghanaer sagt: »Der Bus kommt um 19.40 Uhr.« - »Sicher?« - »Sicher.« Die nächste Info bekomme ich auf Französisch: »20.10 Uhr.« - »Sicher?« - »Sicher.«
Es wird dunkel. Die unmittelbare Nachbarin zum Asylwerberheim wagt sich nur im Auto heraus, andere Nachbarn zu Fuß. Ein sportlicher Nachbar sagt: »20.50 Uhr.«. Die Signorina aus der roten Villa sagt: »Warten Sie! Ich habe einen Fahrplan im Haus.« In diesem Moment schießt ein faustdicker Wasserstrahl aus ihrer Gartenmauer heraus. Ich springe auf. »Der Bus hält hier um 21.25 Uhr«, erklärt die Signora hinterher. Etwas später sagt ein Senegalese auf Französisch: »20.30 Uhr.« - »Sicher?« - »Sicher.«
Der 31N kommt schließlich um 20.50 Uhr. Die sieben Afrikaner, die mir alle falsche Antworten gaben, warfen vor der Antwort alle einen Blick auf ihr Handy. Sie hatten keinerlei Informationen im Handy, einige liefen noch auf Winterzeit. Sie kuckten einfach so aufs Handy, zur Selbstvergewisserung. 3500 Afrikaner starben 2014 im Mittelmeer, diese hier haben es geschafft. Und nun warten sie und laufen im Kreis. Am Abend der endgültigen Räumung von CARA Salinagrande - von Räumung keine Spur.
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