Als der Zufall die Physik eroberte

Vor 100 Jahren starb der österreichische Naturforscher Ludwig Boltzmann

Der größte Hörsaal der Wiener Universität war überfüllt, als am 26. Oktober 1903 der bekannte Physiker Ludwig Boltzmann seine Antrittsvorlesung zur Naturphilosophie hielt. Erwartungsvoll blickten die Studenten auf den kleinen, bärtigen Mann mit der dicken Brille, der mit leiser Stimme erklärte, dass er von den Philosophen im Grunde enttäuscht sei. Von Schopenhauer ebenso wie von Hegel, in dessen Werken er nur einen »unklaren, gedankenlosen Wortschwall« gefunden habe. Boltzmann weiter: »Ja selbst bei Kant konnte ich Verschiedenes so wenig begreifen, dass ich bei dessen sonstigem Scharfsinn fast vermutete, dass er den Leser zum Besten halten wolle oder gar heuchle.« Ein Feind der Philosophie war Boltzmann jedoch nicht. Im Gegenteil: In seiner Arbeit als Physiker wurde er häufig mit philosophischen Fragen konfrontiert, die er nicht selten eigenwillig und originell beantwortete. Denn anders als viele seiner Kollegen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts dem Positivismus anhingen, blieb Boltzmann ein hartgesottener Materialist, der zu keiner Zeit an der realen Existenz der Atome zweifelte. Indem er überdies die mechanische Bewegung atomarer Teilchen in einem idealen Gas mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung untersuchte, wurde er zum Begründer der statistischen Physik. Zunächst allerdings schien es so, als würde Boltzmanns Vorhaben am so genannten zweiten Hauptsatz der Thermodynamik scheitern, der besagt, dass in einem abgeschlossenen System die Entropie, sprich die Unordnung, real nur zunehmen kann. Gibt man zum Beispiel zwei Gase in einen Behälter, werden diese sich im Laufe der Zeit unumkehrbar durchmischen. Der zweite Hauptsatz legt mithin die Richtung des physikalischen Geschehens fest, während die Gesetze der Mechanik von der Zeitrichtung unbeeinflusst bleiben. Wie aber lässt sich beides vereinen? Beim Versuch, dieses Problem zu lösen, vollbrachte Boltzmann sein Meisterstück. 1877 fand er nämlich heraus, dass zwischen Entropie und thermodynamischer Wahrscheinlichkeit ein direkter Zusammenhang besteht. Und zwar dergestalt, dass der Zustand höherer Entropie zugleich der wahrscheinlichere Zustand ist. Damit gab Boltzmann dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik eine statistische Deutung: Ein abgeschlossenes System geht aus relativ unwahrscheinlichen Zuständen immer in den wahrscheinlichsten Zustand über, den es spontan nicht mehr verlässt. Allerdings ist als statistische Schwankung auch ein Absinken der Entropie vorübergehend möglich. Zu den schärfsten Kritikern eines solchen Entropie-Konzepts gehörte lange Zeit Max Planck. Erst im Jahr 1900 wandte er Boltzmanns Methode in einem, wie er schrieb, »Akt der Verzweiflung« auf das Problem der Schwarzen Strahlung an und gelangte auf diese Weise zur Quantentheorie. Später war Planck nicht nur ein glühender Bewunderer von Boltzmanns Ideen, er verhalf diesen auch zu allgemeiner Anerkennung. Am 20. Februar 1844 wurde Ludwig Boltzmann als Sohn eines Finanzbeamten in Wien geboren. Nach dem Abitur, das er in Linz mit Auszeichnung ablegte, studierte er Mathematik und Physik in Wien, wo sich damals die Hochburg der Atomistik befand. 1869 wurde der erst 25-Jährige auf den Lehrstuhl für Mathematische Physik der Universität Graz berufen. Weitere Stationen seiner akademischen Karriere waren die Universitäten München, Leipzig und Wien. Insgesamt drei Mal reiste Boltzmann in das wissenschaftliche »Entwicklungsland« USA, um seinen Kollegen in Übersee die Erfolge der europäischen Physik nahezubringen. Die Aufbruchsstimmung dort beeindruckte ihn tief, und er sagte der US-Wissenschaft eine große Zukunft voraus. Er selbst klagte indes immer öfter über den Verlust seiner körperlichen und geistigen Kräfte. Auch ein Urlaub in Duino bei Triest brachte nicht die erhoffte Besserung. Einen Tag vor der geplanten Heimreise, am 5. September 1906, nahm Boltzmann sich das Leben. Er hinterließ der Nachwelt 193 wissenschaftliche Abhandlungen, die sich keineswegs nur mit Wärmelehre und Statistik beschäftigen. Angeregt durch seinen Wiener Lehrer Josef Stefan, verfasste Boltzmann auch wichtige Beiträge zur Maxwellschen Elektrodynamik, die er als physikalische Theorie über alles schätzte. Es war wiederum Stefan, der im Experiment feststellte, dass die Gesamtleistung der Strahlung eines Schwarzen Körpers der vierten Potenz der absoluten Temperatur proportional ist. Aber erst Boltzmann lieferte dafür die theoretische Begründung, weswegen man heute zurecht vom Stefan-Boltzmannschen Gesetz spricht. Das 19. Jahrhundert werde man wohl das Jahrhundert Darwins nennen müssen, äußerte Boltzmann einmal, denn Darwin habe »die wunderbarste mechanische Theorie auf dem Gebiete der biologischen Wissenschaften« entwickelt. Wobei anzumerken bleibt, dass der Begriff »mechanisch« hier vermutlich so viel bedeutet wie »kausal beschreibbar«. In der Evolutionslehre sah Boltzmann auch eine Herausforderung für die Philosophie. Wer etwa wie Kant bestimmte Denkgesetze für a priori gegeben und unfehlbar halte, erklärte er, verkenne, dass jene Gesetze in Wirklichkeit ererbte Denkgewohnheiten seien, denen »eine vieltausendjährige Erfahrung der Gattung« vorausgehe. Heute firmiert dieser Ansatz unter der Bezeichnung »Evolutionäre Erkenntnistheorie«. Und noch etwas verbindet Boltzmann und Darwin im Rückblick: Beide haben mit ihrer Hinwendung zum Populationsdenken und zur konkreten Analyse von Zufallsprozessen eine der größten Umwälzungen in der Geschichte der Wissenschaften vorbereitet - den Sturz ...

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