Bekenntnisse eines Aufsteigers
»Das Ende von Eddy« will große Literatur sein, dient aber nur der liberalen Selbstbestätigung
Mit den Soziologen ist es so eine Sache. Ihnen scheint jede Fähigkeit zu einer halbwegs verständlichen Ausdrucksweise abzugehen. Meist kokettieren sie sogar mit ihrem akademischen Kauderwelsch. Dabei haben sie der Gesellschaft, die sie erforschen, oft wichtige Erkenntnisse mitzuteilen. Zum Beispiel Pierre Bourdieu: Der 2002 verstorbene französische Sozialwissenschaftler kreierte fast ausschließlich komplizierte Sätze, inhaltlich ist seine Arbeit über unsere Klassengesellschaft aber bis heute von bestechender Klarsicht.
Wolle eine Person gesellschaftlich von ganz unten in die Mittelklasse aufsteigen, erkannte er etwa, dann brauche sie in erster Linie die Hilfe verschiedener Torwächter, um die aus eigener Kraft unpassierbaren Klassenschranken überschreiten zu können. Um das zu erreichen, müsse sie immer mehr leisten als Menschen, die bereits in die Mittelklasse hineingeboren wurden. Einmal oben angekommen, werde dieser Person stets die Plackerei des Aufstiegs anzumerken sein, weil sie sich die alltäglichen Kulturtechniken der Mitte wie eine Fremdsprache mühsam antrainieren müsse.
Dauernd versuche sie, die verpönten Spuren der eigenen sozialen Herkunft zu verwischen, weshalb sie einerseits häufig verächtlich auf »die da unten« hinabblicke, andererseits aber auch gegenüber dem sozialen Umfeld in der neuen Klassenlage so verkrampft wirke, dass sie niemals auf natürliche Weise gesittet daherkommen könne. Sie müsse die eigene Kultiviertheit immer ein bisschen übertrieben zur Schau stellen - und werde darum als leuchtendes Beispiel für das vermeintliche Funktionieren der Leistungsgesellschaft und zugleich wahlweise als arrogant, spießig oder streberhaft wahrgenommen.
Warum dieser ausufernde Vorlauf? Weil er das neueste europaweite Feuilleton-Phänomen erklärt. Da schreibt ein 20-Jähriger, der in der sogenannten Unterschicht eines nordfranzösischen Dorfes aufgewachsen ist, nach seinem steilen Aufstieg zum Soziologie-Studenten einen autobiographischen Roman und wird von der Hochkultur hymnisch gefeiert. Ob nun für den dort verarbeiteten sozialen Aufstieg oder für die literarische Qualität seines Buches, das erschließt sich nicht so ohne weiteres. Denn »Das Ende von Eddy« erzählt eine Geschichte, die jeden klassischen Sozialdemokraten entzückt: Eddy Bellegueule (französisch für »schöne Fresse«) hat - so lautet der erste Satz - »keine einzige glückliche Erinnerung« an seine Kindheit, weil er in einer Gemeinde voller ärmlicher Arbeiter aufgewachsen ist und an deren Homophobie, Borniertheit und Resignation schwer zu leiden hatte.
Minutiös berichtet der Autor, dessen auf dem Cover abgedruckter Name Édouard Louis ein Pseudonym ist, von seinen gewalttätigen Eltern, die ihm jede Bildung verweigern wollten; von seinen Rowdy-Mitschülern, die ihn wegen seiner allmählich aufscheinenden Homosexualität verprügeln und von dem rettenden Ausbruch in die Welt der vornehmen Mittelklassejungs, die er »zutiefst um ihre gelassene, ruhige Redeweise« beneidet. Zweifellos ein berührendes Schicksal. Und die Literaturkritiker der selbsternannten Qualitätsmedien kriegen sich kaum ein vor Begeisterung: »Le Monde« bezeichnet das Werk als »ergreifende Geschichte einer geglückten Flucht«, »Le Figaro« spricht von einem »so außergewöhnlichen Buch, dass einem die Worte fehlen«, die »Süddeutsche Zeitung« jubelt über den »neuen Star der französischen Literatur« und dessen Story vom »Kind, das seinen Weg heraus aus dem häuslichen Unglück findet«.
»Spiegel Online« - wie seit vielen Jahren auch hier die Speerspitze des linkskapitalistisch abgefederten ultraliberalen Zeitgeistes - freut sich, dass da endlich mal jemand über den wahren Charakter dieser ach so verkommenen Unterschicht schreibt, denn »in dieser düsteren Welt bleibt das Herz verschlossen wie eine Auster«. Zum einen ist es für diese digitale Schreckenskammer des Polit-Boulevards sicher stilistisch konsequent, die angeblich selbst verschuldete Verwahrlosung der Ärmsten ausgerechnet mit einem kulinarischen Symbol der hedonistischen Dekadenz zu illustrieren. Zum anderen scheint dieses Buch offenbar die liberale Seele mit ihrem heuchlerischen Credo »Jeder kann alles schaffen, wenn er sich nur genug anstrengt« sanft zu streicheln.
Warum das so ist, erschließt sich vor allem aus der Erzählhaltung. In die Hochsprache, die der Autor erlernt hat, flicht er kursiv gesetzt immer wieder die flapsige Sprache seines Herkunftsmilieus ein. Nun ist Kursivierung gewöhnlich ein distanzierendes Stilmittel. Genau das betreibt Louis hier Seite um Seite: Nüchtern in der Sprache und gerade dadurch wertend referiert sein Protagonist in der Ich-Form kurze Episoden aus seiner unseligen Vergangenheit. Dadurch verstärkt sich der im Laufe der Lektüre unweigerlich aufkommende Eindruck, als habe sich Louis vorab die gängigsten diffamierenden Klischees über bildungsbürgerferne Menschen zurechtgelegt, um sich mit dem Furor des Davongekommenen über deren niveaulose Kultur zu mokieren.
Seine Familie porträtiert Eddy als alkohol- und gewaltverliebte (»Mein Vater prügelte sich gerne betrunken vor der Kneipe«), rücksichtslose (»Meine Mutter rauchte immer sehr viel. Ich litt unter Asthma, manchmal hatte ich furchtbare Anfälle«), Bildung hassende (»Bei uns zu Hause gab es in den Schlafzimmern weder Licht noch Schreibtische, die Hausaufgaben mussten im Wohnzimmer gemacht werden, wo mein Vater fernsah«), animalische Monster mit gesundheitsschädlicher Ernährungsweise (»Es gab bei uns ausschließlich Pommes frites, Nudeln, nur sehr selten auch Reis, dazu Fleisch, tiefgefrorene Hacksteaks oder gekochten Schinken aus dem Discounter«).
Auch wenn für jeden ähnlichen Verhältnissen wie Édouard Louis entstammenden Menschen erkennbar ist, wie stark der Schriftsteller hier die Fiktionalisierung ausgereizt und seine Figuren zu Karikaturen entstellt hat, erscheinen einige Stellen dem kundigen Leser durchaus glaubwürdig. Dem Roman ist anzumerken, dass sein Autor kein Blender ist. Das zeigt sich in vielen kleineren Episoden. Etwa, wenn der Erzähler seiner Familie die Neigung attestiert, die eigene soziale Lage zu naturalisieren: »Meine Mutter sagte auch Das Kreuzweh, das liegt eben in der Familie, und in der Fabrik wird es dann richtig schlimm, ohne sich klarzumachen, dass diese Probleme nicht vorgegeben, sondern die Folge der quälenden Fabrikarbeit waren.«
Auch die auf ebenjener körperlichen Erwerbsarbeit gründende Fixierung auf das abendliche Fernsehprogramm oder die der materiellen Armut geschuldete Angewohnheit, »einen heißen Kakao zu machen - mit Wasser, wenn keine Milch da war«, sind authentische Sequenzen aus dem Alltagsleben derer, die an den gesellschaftlichen Rand gedrängt wurden. Das Problem aber ist, dass der Protagonist die Lebensweise seiner Familie einfach nicht kontextualisiert, nicht nach Ursache und Wirkung fragt, zu all dem keine künstlerisch ambitionierte Haltung, sondern nur die politische Attitüde des triumphierend Geflüchteten entwickelt. Geflüchtet aus jener Welt, die er »in allen Dingen ablehnen« muss, um bei den ersehnten »Bürgerlichen« anzukommen, die Louis zu seiner begeisterten Leserschaft gemacht hat - und mit denen er jetzt gemeinsam über »die da unten« herziehen kann, als wäre er das personifizierte Forschungsergebnis eines Pierre Bourdieu.
Édouard Louis: Das Ende von Eddy. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer Verlag, 208 S., geb., 18,99 €.
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