Legasthenie ist keine Störung

Für den Pädagogen Ulrich Schulte ist die Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS) von Kindern Ergebnis des schulischen »Sortierungswahns«

  • Lesedauer: 5 Min.

Herr Schulte, Sie haben mehrfach das deutsche Schulsystem kritisiert und von einem um sich greifenden »Sortierungswahn« gesprochen. Wie meinen Sie das?

Na ja, vielleicht habe ich mit dem »Sortierungswahn« den Nagel noch nicht recht auf den Kopf getroffen. Denn der Begriff legt das Missverständnis nahe, die Kritik richte sich nur gegen den Ausbau der an und durch Schule praktizierten Selektion. Tatsächlich gibt jedoch schon der ganz normale, ständig stattfindende Leistungsvergleich mit den daraus gezogenen Schlussfolgerungen gut Auskunft über den Zweck der schulischen Wissensvermittlung: Nicht optimale Förderung für alle - mit dem dafür nötigen Aufwand an Know-how und Zeit - ist da angesagt, sondern das Herstellen von Unterschieden bei Schülern steht auf dem Programm. Die Mehrheit der Schüler wird dadurch von den Möglichkeiten einer weiterführenden Bildung ausgeschlossen.

Was meinen Sie mit »Herstellen von Unterschieden«?

Nehmen Sie beispielsweise eine Klassenarbeit. Da wird ein bestimmtes Thema im Unterricht durchgenommen und soll gelernt werden. Ab und an lässt der Lehrer oder die Lehrerin Klassenarbeiten schreiben, in denen das Gelernte abgefragt wird. An diesem Beispiel ist zu sehen, wie die schulische Lernerfolgskontrolle funktioniert und um welchen Lernerfolg es überhaupt geht. Denn der oder die Lehrende ist sich ja gar nicht unsicher, ob ihm der eine oder andere Mangel bei den Schülerinnen und Schülern entgangen ist, sondern hat vielmehr die Gewissheit, dass in der Klasse nach dem Durchnehmen des Stoffs noch eine ganze Menge Unkenntnis besteht. Es ist jedoch schulischer Usus, ein Thema nicht dann abzuschließen, wenn es jeder und jede verstanden hat, sondern die Behandlung des Stoffs vorher abzubrechen. Völlig unabhängig vom Kenntnisstand, vom Lerntempo, von den unterschiedlichen Interessen, den besonderen Lernproblemen und Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler, ist im Lehrplan, der den Lehrenden vom Staat vorgeschrieben wird, festgelegt, dass in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Stoffmenge »durchgenommen« werden muss.

Sie haben diesen »Sortierungswahn« verantwortlich gemacht für die Zunahme der Lese- und Rechtschreibschwäche vieler Schülerinnen und Schüler. Die Mehrheit Ihrer Kollegen wird Ihnen da widersprechen und auf die Diagnose »Legasthenie« verweisen, auf eine vererbbare Störung im Gehirn also, die in den Familien der betroffenen Kinder schon über Generationen hinweg feststellbar sei.

Der Vergleich mit einer vererbbaren Krankheit, die den Menschen unabhängig von seinem Willen und dem Stand seines Bewusstseins befällt, ist im Falle einer festgestellten Fehlerhaftigkeit des Schreibens und Lesens vollkommen fehl am Platz. Denn bei Letzterem handelt es sich um eine geistige Tätigkeit, bei der man Fehler machen kann, aber nicht muss. Es gibt kein Gen, das einen zum Fehlermachen determiniert und etwa zum notorischen Weglassen des Dehnungs-H zwingt. In diesen und anderen Fällen müssen die Regeln des Schreibens gelernt und verstanden sein, dann ist es aus und vorbei mit der sogenannten Krankheit. Ohne jede gentechnische Manipulation. Aber so einfach will man das in unserem Schulsystem nicht sehen, denn das kostete Geld für kleinere Klassen, eine andere Pädagogik und erfordert zudem wohl ein wirkliches Umdenken und Hinterfragen der vorhandenen Leistungsideologie. Da eine Entwicklung in diese Richtung nicht gewünscht ist, ist jeder wissenschaftliche Unfug willkommen, wenn dieser nur dafür von Nutzen ist, die schulische Selektion als »Dienst« an den »Fähigkeiten des Kindes« umzuwidmen und diese so gegen jede Kritik immun zu machen.

Aber Sie werden doch nicht abstreiten, dass es Kinder mit großen Problemen beim Lesen und Schreiben gibt? Ich kann mir nicht vorstellen, wie Schritte wider die schulische Selektion dabei helfen sollten, den entsprechenden Kindern das Lesen oder Schreiben beizubringen.

Die großen Probleme beim richtigen Schreiben und Lesen werden von der Schule selbst produziert. Die Schüler bekommen schlicht zu wenig Wissen über die Regularien der Schriftsprache an die Hand. Die Schule verlässt sich in der Regel einfach darauf, dass sich durch viel Üben die gemachten Fehler abschleifen. Das kann durchaus funktionieren - viele Schüler haben keine Ahnung von den Regeln, schreiben aber trotzdem die meisten Wörter richtig - , doch bei einer stattlichen Zahl von Schülern funktioniert das eben nicht. Die sind dann durch den erfahrenen schulischen Misserfolg gewöhnlich so sehr irritiert, dass in den meisten Fällen auch das vermehrte Üben nicht weiter hilft. Hier helfen nur Übungen, die auf der Erklärung der jeweiligen Schreibung beruhen. Doch darauf ist die Lehrerschaft nicht vorbereitet: Als in der Regel früher selbst gute Schüler haben sie zwar das richtige Schreiben gelernt, in ihrer Lehrerausbildung aber zu wenig Wissen über die Regeln der Schriftsprache vermittelt bekommen. Die Kinder sollen ja das Schreiben durch viel stupides Üben erlernen.

Wie sollten die Schulen den betroffenen Kindern Ihrer Meinung nach helfen?

Ich habe in einer Schrift für das Luxemburger Erziehungsministerium einen Anhang mit Übungen zum Erlernen der Rechtschreibregeln erstellt. Da ist jedem Übungsbereich eine Erklärung vorangestellt, welche dabei hilft, die nachfolgenden Aufgaben - mit einigem Nachdenken - weitgehend fehlerfrei zu lösen. Das ließe sich noch ergänzen durch Übungen zu den Konsonanten b, d, g und s, die an bestimmten Stellen im Wort wie p, t, k und ß gesprochen, also auch fälschlicherweise so geschrieben werden. Mit dem Wissen um die richtige Rechtschreibung in den beiden genannten Bereichen ließen sich schon etwa 80 Prozent der gemachten Schreibfehler vermeiden. Meine Erfahrungen im Umgang mit den sogenannten Problemfällen zeigen, dass in der Regel alle »geheilt« werden können.

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