Wer wird Berlin nehmen?

Vor 70 Jahren begann die Schlacht um die deutsche Reichshauptstadt

  • Werner G. Fischer
  • Lesedauer: 7 Min.

In der Nacht zum 16. April 1945 erhält ein junger Leutnant der Roten Armee auf dem Armee-kommandopunkt Reitweiner Sporn einen ungewöhnlichen Auftrag. Er soll vor der in wenigen Stunden beginnenden sowjetischen Großoffensive mit seinem Lautsprecherwagen die gegenüberliegenden deutschen Soldaten auffordern, den Kampf einzustellen und sich gefangen zu geben. Er heißt Stefan Doernberg und ist in Berlin geboren. Unmittelbaren Erfolg zeitigt sein mutiger Einsatz jedoch nicht.

Mit ihm standen etwa 2,5 Millionen Rotarmisten und polnische Soldaten, unterstützt von 42 000 Geschützen, 6250 Panzern und Selbstfahrlafetten sowie von 7500 Flugzeugen, bereit, um in einer Breite von 350 Kilometer und einer Tiefe bis zu 165 Kilometern auf die deutsche Reichshauptstadt vorzustoßen. Von der Schlacht um Berlin, der größten des Zweiten Weltkrieges auf deutschem Boden, werden insgesamt 3,5 Millionen Soldaten beiderseits, sechs bis sieben Millionen deutsche Zivilisten, mehr als eine Million ausländische Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und etwa 100 000 von der SS auf Todesmarsch getriebene KZ-Häftlinge betroffen sein. Im Guinness-Buch ist die Schlacht um Berlin als größte des Zweiten Weltkrieges zu Lande ausgewiesen - ein fragwürdiger Rekord.

Die sowjetische Führung nannte erstmals im November 1944 die Reichshauptstadt als Endziel der Kämpfe gegen das faschistische Deutschland. Am 2. Februar 1945, als die Rote Armee an der Oder bei Küstrin und Frankfurt steht, erteilt der Oberbefehlshaber der 1. Belorussischen Front, Marschall Georgij Shukow, gleichzeitig Stellvertreter des Obersten Befehlshabers Josef W. Stalin, seinen Truppen die Weisung, »durch zügigen Vorstoß am 15. und 16. Februar Berlin zu nehmen«. Dieser Plan muss jedoch wegen der zähen Gefechte in Pommern, Ost- und Westpreußen sowie in Schlesien, die noch bis Ende März andauern, aufgegeben werden.

»Wer wird Berlin nehmen?«, soll Stalin am 31. März 1945 Shukow gefragt haben. Diese eher rhetorische Frage bezog sich auf den raschen Vormarsch der westlichen Verbündeten seit Anfang März ins Innere Deutschlands. Im Januar 1945 war die Reichshauptstadt noch im Visier des Oberbefehlshabers der Westalliierten in Europa. An eben jenem 31. März jedoch lässt General Dwight D. Eisenhower den Kremlherrn wissen, mit seinen Streitkräften in den Raum Erfurt-Leipzig-Dresden und entlang der Donau nach Regensburg-Linz vorzustoßen; Berlin sei für ihn kein wichtiges militärisches Ziel mehr. Eine Entscheidung, die dem britischen Premierminister Winston Churchill und dessen Feldmarschall Bernard Montgomery sowie einigen US-Generälen sehr missfällt. Unbeirrt befiehlt Eisenhower am 12. April seinen Truppen, an Elbe und Mulde zu stoppen. Dafür muss er sich noch Mitte der 1950er Jahre als Präsident der USA im eigenen Land rechtfertigen. In der Nacht vom 20. zum 21. April bombardieren die Briten letztmalig Berlin; auch der Luftraum über Berlin wird nunmehr der Sowjetarmee überlassen.

Eisenhowers Schreiben, in dem er auf die Einnahme von Berlin verzichtet, wird Stalin während eines Gesprächs mit den Botschaftern und den Militärbevollmächtigten der USA und Großbritanniens überreicht. Der Generalissimus antwortet, auch für die Rote Armee sei die deutsche Hauptstadt nicht von vorrangigem Interesse. Und: Die sowjetische Offensive in Richtung Westen würde in der zweiten Maihälfte beginnen. Eine halbe Stunde später jedoch empfängt Stalin Marschall Shukow und weist ihn an, die »Berliner Operation« in kürzester Frist anzugehen. Dieser berät sich sogleich mit dem Oberbefehlshaber der 1. Ukrainischen Front, Marschall Iwan Konew; der Oberbefehlshaber der 2. Belorussischen Front, Marschall Konstantin Rokossowski, dessen Truppen noch um Danzig kämpfen, wird schriftlich eingeweiht.

Die Frontbezeichnungen der Roten Armee waren während der Befreiung der Ukraine und Belorusslands im Herbst 1943 erfolgt; es handelte sich hier um keine »nationalen Verbände«, wie in den Medien heute mitunter suggeriert. Die Truppen setzten sich aus Angehörigen aller Völker der Sowjetunion zusammen. Die einzigen nationalen Verbände während der »Berliner Operation« waren die 1. Polnische (innerhalb der 1. Belorussische Front) und die 2. Polnische Armee (in der 1. Ukrainische Front).

Entgegen dem Vorschlag des sowjetischen Generalstabes beschließt Stalin, die Eroberung Berlins nicht Shukows Truppen allein zu überlassen. Konew soll vom Süden her eingreifen, was jener als eine Aufforderung zum Wettlauf mit Shukow interpretiert. Eine am 2. April ergangene Direktive der »Stavka«, wie das befehlsgebende Gremium aus Stalin und Generalstab genannt wird, fordert die Einnahme Berlins und die Erreichung der Elbe am 12. und 15. Tag der Offensive. Anschließend soll Konew nach Leipzig und Rokossowski nach Wittenberge vorstoßen. Der Beginn des Angriffs auf Berlin ist auf den 16. April terminiert.

Die deutsch-faschistische Führung hatte sich im Februar fieberhaft bemüht, an der Oder eine möglichst starke und tiefgestaffelte Verteidigung aufzubauen. In der Heeresgruppe Weichsel (3. Panzerarmee, 9. Armee), Teilen der Heeresgruppe Mitte (4. Panzerarmee) und im direkten Verteidigungsbereich von Berlin waren etwa eine Million Soldaten, Angehörige der SS, des Volkssturms und der Hitlerjugend sowie ganze Divisionen von Offiziers- und Unteroffiziersbewerbern eingesetzt. Die Generäle und viele Offiziere wollten weiter gegen die Russen bis zum letzten Mann und bis zum letzten Schuss kämpfen, auch wenn Hitlers Tagesbefehl vom 15. April , dass »der letzte Ansturm Asiens zerbrechen werde«, keine Aussicht mehr auf Erfolg versprach. Gegen all jene, die den weiteren Kampf für sinnlos halten, geht nicht nur die SS mit größter Härte vor. Rund 10 000 deutsche Soldaten und Zivilisten werden in den letzten Wochen und Tagen vor der Kapitulation noch wegen »Wehrkraftzersetzung« und »Defätismus« hingerichtet.

Bei den Kämpfen um die Seelower Höhen gelingt den Truppen Marschall Shukows nicht der sofortige Durchbruch. Erst am dritten Tag stoßen die Armeen von Wassili Tschuikow und Nikolai Bersarin das »Tor zu Berlin« auf, werden die Seelower Höhen eingenommen, das eigentliche Ziel des ersten Angriffstages. Die 1. Ukrainische Front Konews überwindet hingegen rasch die deutschen Stellungen an Neiße und Spree. Am 21. April dringt Konews 3. Panzerarmee am Südrand von Berlin ein. Zugleich machen seine und Shukows Truppen den Kessel um die 9. Armee der Wehrmacht bei Halbe dicht. 40 000 deutsche Soldaten und 20 000 Rotarmisten sterben dort, weil General Busse eine Kapitulation ablehnt. Am 2. Mai bricht jener mit etwa 25 000 Soldaten und 5000 Zivilisten aus und schlägt sich zur Armee von Wenck durch. Die Lage um Berlin tangiert dies nicht. Am 25. April haben die Truppen der Ukrainischen Front gemeinsam mit den von Nordosten vorstoßenden Einheiten Shukows bei Ketzin an der Havel den äußeren Ring um Berlin geschlossen. Es sollen noch sieben verlustreiche Tage im Ringen um die Reichshauptstadt folgen. Erbittert wird um jeden Straßenzug gekämpft, Haus um Haus ...

Am 30. April erfährt Tschuikow auf seinem Gefechtsstand in Berlin vom letzten Generalstabschef des deutschen Heeres Hans Krebs über Hitlers Selbstmord. Die unter Rotarmisten populäre Losung »Gitler kaput!« ist nun Wirklichkeit geworden. Das Angebot der neuen Reichsregierung unter Goebbels zu Waffenstillstandverhandlungen lehnt die sowjetische Seite mit der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation ab.

Am 2. Mai 1945 übergibt schließlich der letzte Kampfkommandant Berlins, General Helmuth Weitling, die Stadt den Siegern. Rotarmist Doernberg nimmt als Dolmetscher an den Gesprächen mit Krebs und Weitling teil. Er ist höchst erstaunt, was Weitling ihm als Aufruf zur Kapitulation an seine Einheiten in die Schreibmaschine diktiert: »Am 30. 4. 45 hat sich der Führer selbst entleibt und damit uns, die wir ihm die Treue geschworen haben, im Stich gelassen. Auf Befehl des Führers glaubt ihr noch immer um Berlin kämpfen zu müssen ...« Selbst jetzt noch wird Bezug auf die Treue zum »Führer« genommen.

Eines der heiß umstrittenen Themen auch noch 70 Jahre danach bleibt die Haltung der Rotarmisten zur deutschen Bevölkerung in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegswochen. Plünderungen und tätliche Angriffe auf Zivilisten (nicht nur im Zustand von Trunkenheit), Vergewaltigungen und sogar Mord waren keine Seltenheit. Die Übergriffe wurden in Befehlen und Weisungen der Front- und Armeebefehlshaber scharf verurteilt, jedoch weniger aus der Erwägung, dass dadurch das zukünftige Verhältnis zu den Deutschen stark beeinträchtigt werden könnte, als vielmehr aus Sorge um die Kampffähigkeit der Truppen. Es folgen jedoch dann Weisungen der sowjetischen Führung, die auf eine grundlegende Änderung des Verhältnisses zu den Deutschen vor allem westlich der Oder-Neiße und die Gestaltung einer friedlichen Nachkriegsordnung zielen.

Jeder Krieg, zumal ein so verbrecherischer wie der von Nazideutschland entfesselte, brutalisiert Menschen. Zudem: Die Rote Armee verstand sich beim Ansturm auf Berlin 1945 explizit als »Eroberer der Höhle des faschistischen Ungeheuers«. Damit war sie aber gleichzeitig Befreier auch der Deutschen vom Faschismus. Die Sowjetsoldaten waren stolz auf ihren Sieg in einem fast vierjährigen Krieg über einen Feind, der nahezu ganz Europa unterworfen hatte. Angesichts der enormen Verluste bei der militärischen Vernichtung des Aggressors waren sie einfach nur froh, überlebt zu haben. Die Schlacht um Berlin hat auf Seiten den Roten Armee und ihrer polnischen Kameraden nach russischen Angaben exakt 81 116 Tote gekostet, hinzu kamen Hunderttausende Verletzte.

Am 9. Juni 1945 wurde durch Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR eine Medaille »Für die Einnahme Berlins« gestiftet; analoge Medaillen gab es für die Einnahme von Budapest, Wien und Königsberg, dahingegen Medaillen »Für die Befreiung« von Belgrad, Warschau und Prag. Insgesamt wurden 1,1 Millionen solcher Medaillen in der Sowjetunion verliehen.

Unser Autor ist Militärhistoriker und Mitglied der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung e.V.

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