Geheuchelte Humanität
Koalition schließt Flüchtlingsrettung nicht aus
Nach dem erneuten Flüchtlingsunglück im Mittelmeer am Wochenende mit vermutlich bis zu 950 Toten äußerten sich Bundespolitiker aller Parteien erschüttert. Allerdings gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie man künftig mit den Schutzsuchenden umgehen soll, die sich aus Afrika und Asien auf den Weg nach Europa machen. SPD-Politiker haben sich inzwischen der Forderung der oppositionellen LINKEN und Grünen angeschlossen, ein umfassendes Seenotrettungsprogramm zu starten. Eine solche Operation hatte es bis Ende Oktober des vergangenen Jahres unter dem Namen »Mare Nostrum« gegeben. Während dieser Operation retteten die italienischen Marine und Küstenwache zahlreiche Flüchtlinge im Mittelmeer. Seit dem November 2014 konzentriert sich die EU wieder verstärkt auf die schnelle Flüchtlingsabwehr. Dafür ist die Operation »Triton« unter Führung der EU-Grenzagentur Frontex zuständig.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière war bisher ein Gegner von »Mare Nostrum«. Der CDU-Politiker hatte behauptet, dass ein solches Seenotrettungsprogramm vor allem Beihilfe für Schlepper wäre. Auf diese sind die Flüchtlinge aber angewiesen, weil ihnen legale Einreisewege nach Europa zumeist versperrt sind. Diesen Zusammenhang macht de Maizière bei öffentlichen Auftritten nicht deutlich. Um die Schutzsuchenden von der Überfahrt über das Mittelmeer abzuhalten, will er vielmehr die Schlepperbanden verstärkt bekämpfen. Eine Möglichkeit hierfür ist aus Sicht des Innenministers die Einrichtung von sogenannten Auffanglagern in Nordafrika. Dort könnte in Zukunft die Entscheidung fallen, wer legal nach Europa kommen darf und wer in seine Heimat zurückkehren muss. Allerdings hatte sich Justizminister Heiko Maas von der SPD hierzu skeptisch gezeigt, weil Flüchtlinge in diesen Lagern nicht die gleichen rechtstaatlichen Möglichkeiten haben würden wie in der EU.
Zur Seenotrettung äußerte sich nun ein Sprecher des Innenministeriums zurückhaltend. De Maizière sei nicht generell dagegen, diese im Mittelmeer auszubauen. Dies sei aber kein Allheilmittel, betonte der Sprecher. Wenn eine Neuauflage von »Mare Nostrum« Teil eines Maßnahmenpaketes wäre, »dann würde sich das Bundesinnenministerium dem nicht verschließen«.
Zuvor hatten auch Teile der SPD den Minister unter Druck gesetzt. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer, warnte im Südwestrundfunk davor, »den zweifellos notwendigen Kampf gegen die Schleuser« auf dem Rücken fliehender Menschen auszutragen. Wer das tue, müsse sich einen »Anflug von Zynismus« zurechnen lassen, kritisierte der Sozialdemokrat, der dem linken Flügel seiner Partei angehört. Strässer sprach sich dafür aus, Anlaufstellen für Flüchtlinge in den EU-Auslandsvertretungen zu schaffen, in denen humanitäre Visa ausgestellt werden können. Dadurch würden Flüchtlinge die Möglichkeit bekommen, legal nach Europa weiterzureisen. Zudem verlangte Strässer ebenso wie Aydan Özoğuz, SPD-Vizevorsitzende und Staatsministerin für Integration, und SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi ein Seenotrettungsprogramm.
Diese Forderung kommt nicht allen führenden Sozialdemokraten leicht über die Lippen. Der Parteivorsitzende und Wirtschaftsressortchef Sigmar Gabriel sowie Außenminister Frank-Walter Steinmeier betonten neben dem von der Union favorisierten Vorgehen gegen die Schleuser vor allem Hilfen für die Transitländer in Nordafrika. Das betrifft etwa Libyen, das derzeit in einem Bürgerkrieg zerfällt. »Wir wollen das Land stabilisieren«, kündigte Steinmeier an. Notwendig sei eine Regierung der nationalen Einheit. Eine Verbesserung der Seenotrettung ist für Steinmeier hingegen lediglich ein möglicher Ansatzpunkt. Nach einem konfrontativen Kurs der beiden SPD-Bundesminister gegen die Flüchtlingsabwehrmaßnahmen der Koalitionspartner CDU und CSU klang das nicht.
Das ist nicht sonderlich verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sich die Union bereits während der Koalitionsverhandlungen bei diesem Thema weitgehend durchgesetzt hatte. Der schwarz-rote Vertrag enthält ein grundsätzliches Bekenntnis zu Frontex, obwohl die Grenzagentur immer wieder von Menschenrechtsorganisationen heftig kritisiert wird. In ihrem Koalitionsvertrag haben Union und SPD versprochen, bei Frontex-koordinierten Maßnahmen für den Grundsatz der Nichtzurückweisung und die Pflicht zur Seenotrettung einzutreten. Nach einer Verordnung des Europäischen Parlaments vom vergangenen Jahr wurden jedoch die Zurückweisungen von Flüchtlingen auf eine scheinbar legale Grundlage gestellt.
Die Große Koalition und ihre Vorgängerregierungen hatten lange in Kauf genommen, dass immer wieder Schutzsuchende im Mittelmeer sterben. Forderungen nach wirksamen Gegenmaßnahmen wurden zuletzt im November vergangenen Jahres von Konservativen und Sozialdemokraten im Bundestag abgelehnt. Damals hatte die Linksfraktion die inzwischen auch von SPD-Politikern geforderte Erteilung von Visa zur Durchführung eines Asylverfahrens sowie die Auflösung von Frontex verlangt. Die SPD-Abgeordnete Christina Kampmann hatte im Parlament die Haltung ihrer Fraktion auch damit begründet, dass die Grenzagentur eine »wichtige ordnungspolitische Funktion« habe.
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