.... aber der Horizont!
Theater Rudolstadt: »Hafen der Sehnsucht« von Armin Petras
Es beginnt hinreißend: Das Bühnenbild besteht aus einer seltsamen Landschaft - einer Vielzahl unterschiedlicher, aneinandergestellter Tische. Eine Laufstrecke für alle, bis in die Tiefe der Bühne hinein. Unsicherer Boden ist das, denn zwischen den Tischen bleiben Spalten oder größere Abstände. Hier springt Leben auf die Tische, als führe der Übermut Regie. Oder als spränge der Mensch von Klippe zu Klippe. Oder stehe ständig auf der Kippe oder gewissermaßen mit beiden Beinen auf des Messers Schneide. Aber auch, zwischen den Tischen: Raum genug zum Abtauchen. Manchmal freilich scheint es, nichts falle hier entschiedener unter den Tisch als just der Mensch.
Alle Figuren stehen zu Beginn auf einem der Tische, und jeder dieser Menschen singt, gleichzeitig, einen anderen Schlager oder Popsong. Der Schlager als Total-Opposition gegen die reale Welt. Sehnsuchts präzise Philosophen: Freddy Quinn, Reinhard Mey, Frank Sinatra. Ein babylonisches Gewirr romantischer, feuriger, schmalzwarmer Ausbrüche aus Wirklichem. Was da singend durcheinander schreit, ist der mehrstimmige Traum von anderen Leben, der in jeder Tonlage, in jedem Rhythmus, in jeder Lautstärke so falsch klingt und doch so Recht hat; und immer ist das Falsche die wehmutsreich erheischte Alternative zum genormt Richtigen. Im Schein glänzen, wo einem vorm Sein graut.
Was von diesem lauter und lauter werdenden Chor bleibt, wenn sich die Bühne geleert hat, heißt Familie. Das erbarmungswürdige Weltreich am Küchentisch. Heruntergekommen. Die da sitzen, hebt nicht mal mehr ein Schlager. Der Vater (Rayk Gaida) in der Uniform der Deklassierten, dem Trainingsanzug. Die Mutter (Verena Blankenburg) im Morgenmantel, der das Verdämmern kaschiert. Am Ende wird sie, todkrank, mit Pappflügeln den immer wieder ersehnten Himmelflug üben. Zu komisch. Zu lächerlich. Zu traurig. Nur Tochter Agnes hat noch so ein Augenglühen, dieses Wesen ist eine gefühlsechte Anti-Heulsuse, ein Fels in der Jammerbrandung.
»Hafen der Sehnsucht« heißt das Stück von Armin Petras, geschrieben nach der Erzählung »Der achte Tag der Woche« des Polen Marek Hlasko; Petras hatte die Uraufführung seines Schauspiels selbst besorgt, in Krakow - die deutsche Erstaufführung ging nun am Theater Rudolstadt über die Bühne, Regie: Uta Koschel, Ausstattung: Tom Musch.
Das Stück erzählt vom Aufruhr der Agnes gegen die große Leere. Erzählt Stationen ihrer Weltzugewandtheit: auf der Suche nach einem Ort, wo sie mit Peter, eben aus dem Gefängnis entlassen, ihre erste Liebe erfahren kann; auf der Suche nach ihrem Bruder Gregor, der seinen Liebeskummer mit Alkohol erstickt; auf der Suche nach einem Glück, das jetzt und immer nur jetzt passieren soll, ohne Aufschub, ohne Vertrösten ...
Bewegung auf, unter, zwischen den Tischen: Kneipe, Straße, Stundenhotel, Wohnungsenge; hinten öffnet sich die Bühne in einen Regentag. Uta Koschel entwirft eine Szenerie des Atmosphärischen, die ahnen lässt, was in Hlaskos Prosa-Ursprung Kern war: wie sich private Sehnsucht mit dem Protest (oder der Verbitterung!) in einer erstarrten »kommunistischen« Welt verbindet. Zu zugleich schimmert hier der Fluch einer westlichen Freiheit durch, die ebenfalls nur Verlorenheiten produziert. Petras als Dichter derer, die umbrochen werden beim gesellschaftlichen Umpflügen. Das aus der Seele, dem ewigen Feuer, eine Lampe macht, »die man zerschlagen kann«. Sein Stück ist Dialog, aber mitunter treten die Spieler aus ihren Rollen, werden Erzähler ihrer selbst; das verleiht dem Aufgedrehten, Ruppigen, Expressiven eine Deckfarbe des melancholischen Nachsinnens. Das den Schmerz des Einzelnen groß macht und - in aller Versunkenhei - doch klar gegen die krude Frage Gregors steht, ob die Kraft der Menschheit nicht doch ihren Ursprung (nur) in Grausamkeit habe.
Daniela Schober als Agnes: eine agile Unternehmerin ihrer Lust; beschäftigt mit großer Versuchung - dem Abschied von der öden Familie, der Hingabe an die erste Nacht mit Peter, aber schließlich einem wilden Sturz in die Arme eines Fremden. Unschuld, die sich verlieren will, fragt, was der Körper sagt, nicht, was das Herz rät. Agnes und der um Kontrolle und Maß ringende Peter des Oliver Firit: Zerrissenheit einer Beziehung zwischen schöner Scheu und dauernd verpassten Gelegenheiten.
Gabriel Kemmether ist Gregor, Agnes' Bruder: unter Rastalocken ein vom Fusel wundgeweichtes Hirn, und doch, in seinen Blicken auf die Welt, ein klar Sehender. Die Hornhaut auf der Seele bis auf Hauchesdünne blank poliert. Am Ende wird ihm Agnes die Pistole reichen; natürlich darf sie darauf hoffen, dass er sich nicht erschießt, aber angesichts des Ungeheuerlichen, des möglichen Todes, könnte er begreifen, »wie albern unsere kleinen Geschichten sind«.
Die Inszenierung ist Kaleidoskop, Momentaufnahme, wird still, um sich dann in rasanten Slapstick hochzujagen (etwa, wenn Agnes und Gregor einem Kneipier mit dem Besuch »russischer Freunde« drohen und eine »Nu pogodi!«-Parodie bieten). Die Menschen sind Fleisch und Blut und sind doch auch Geistererscheinungen. Figuren eines Schicksalswürfelpiels, die in Schubladen geworfen wurden und vergessen werden. Glühwürmchen-Existenzen am grausam hellichten Tag. Kurz und zart bricht, wo Daniela Schober gegen das Abgefeimte, Verkrustete, Ermattete rast, eine sehnsuchtswehe Angst aus, das Leben zu versäumen. Das ein Betrug sein mag, wenn doch nur recht lebendig betrogen wird. Wo das Stück vom Hafen erzählt, singt sie den Horizont.
Rudolstadt wurde kürzlich in der Saisonumfrage von »Theater heute« für die Rubrik »Theater des Jahres« nominiert. Eine mehr als ehrenwerte Kandidatur. Der gelungene Auftakt dieser Spielzeit bekräftigte den Ehrgeiz des Ensembles und rückte damit eine kulturpolitische Gesprächsrunde ins besondere Licht, welche die Premiere in Rudolstadt umrahmte - ein Gespräch über die von rigiden Sparplänen bedrängte Zukunft der Thüringer Theater (...
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