Kapitulation der gestaltenden Finanzpolitik
Der Ökonom Rudolf Hickel über 40 Jahre Memorandum-Gruppe, ignorierte Alternativen und die Möglichkeiten eines qualitativen Wachstums
nd: Herr Hickel, lassen Sie uns mit einem Zitat starten: »Ein solcher Widerspruch (zur herrschenden Wirtschaftspolitik) erscheint um so notwendiger, als eine massive Kampagne in der Öffentlichkeit den Eindruck erzeugen soll, zu diesen Beschlüssen gebe es keine Alternative.« Quizfrage: Aus welchem Memorandum der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik stammt dieses Zitat?
Rudolf Hickel: Ich vermute mal aus dem ersten von 1975. Ich kann mich an den Satz erinnern. Er war und ist bis heute der Schlüsselsatz für unsere Arbeit.
Ist das Motto heute so aktuell wie vor 40 Jahren?
So lange die Marktideologie herrscht und sich das System nicht grundlegend wandelt, so lange wird es uns als Kritiker geben. Wir brauchen eine alternative Wirtschafts- und Finanzpolitik, um keynesianisch gegenzusteuern.
Zu den Gründungsmitgliedern der Memorandum-Gruppe gehörten unter anderem Herbert Schui, der 2009 verstorbene Jörg Huffschmid – und Rudolf Hickel. Er lehrte von 1971 bis 2007 an der Universität Bremen als Professor für Finanzwissenschaften und leitete dort bis 2009 das Institut für Arbeit und Wirtschaft. Hickel, der schon mal als Schlichter bei Metall-Tarifverhandlungen in Sachsen fungierte und mit Gewerkschaftsmandat im Aufsichtsrat des Allianz-Konzerns saß, ist häufiger Gast bei TV-Talkshows zu Wirtschaftsthemen. Mit dem 73-Jährigen sprach Kurt Stenger.
Wie entstand das erste Memorandum?
Wir wollten die Parole des selbst ernannten Weltökonomen Helmut Schmidt widerlegen: »Gewinne von heute, Investitionen von morgen, Beschäftigung von übermorgen«. Dies war der Einstieg in eine Politik, die bis hin zu Kanzlerin Angela Merkel als alternativlos dargestellt wird.
Bei Schmidt ging es um kurzfristige Maßnahmen gegen Rezession, Inflation, steigende Arbeitslosigkeit und Schulden. Sie und Ihre Kollegen erkannten aber, dass die Bundesrepublik einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel vollzieht.
Ja, genau. Schmidt begann mit der »Sanierung« durch Abbau von Sozialsystemen, durch Deregulierung der Arbeitsmärkte. Und es ging um Strukturelles: die Akzeptanz der These, dass Kapitalismus und Vollbeschäftigung unvereinbar sind. Unser erstes Memorandum richtete sich auch gegen den Sachverständigenrat, der in seinem Jahresgutachten 1975 ein unglaublich arrogantes Plädoyer schrieb, dass die freie Marktwirtschaft alles regele und es weder Umverteilungs- noch Ökologieprobleme gebe. Es waren ideologische Verblendetheit, Denkfaulheit und politische Strategie – sowie wohlgefälliges Verhalten für die Marktmächtigen.
Wie würden Sie die Frage heute beantworten: Sind Kapitalismus und Vollbeschäftigung vereinbar?
In der Bewertung des Kapitalismus unterscheiden wir uns von manchen anderen Linkspositionen – Kapitalismus ist sowohl historisch als auch als Gesellschaftssystem nicht gleich Kapitalismus. Die angloamerikanische Form ist etwas anderes als ein sozial regulierter Kapitalismus. Es gibt keinen Automatismus, sondern nur das Ergebnis von Kämpfen. So gesehen hat das politische System mit der Agenda 2010 überzogen. Proteste gab es nicht nur von der LINKEN, sondern auch tief in die SPD hinein. Der beste Beweis sind die Durchsetzung des Mindestlohns und die Einschränkung der Leiharbeit.
Hatten die Memoranden daran einen Anteil?
Es war die Gewalt der durch Verarmung und Prekarisierung ausgelösten sozialen Krise, die etwas verändert hat, und nicht der Einfluss des Memorandums. Das bundesdeutsche System ist offenbar nicht lernfähig, was Ratschläge von außen angeht.
Sie fordern seit 40 Jahren ein großes staatliches Investitions- und Arbeitsmarktprogramm, finanziert durch Steuererhöhungen für Unternehmen und für Reiche. Mal ganz persönlich: Wie frustrierend ist das für Sie, wenn sinnvolle Anregungen ignoriert werden?
Es ist schon manchmal frustrierend, wenn es uns einfach nicht gelingt, die Wirtschaftswissenschaft – diese ist ja unser eigentlicher Adressat – grundlegend zu verändern. Es gab immer mal wieder eine lichte Sekunde in der Bundesrepublik, etwa die Konjunkturprogramme von 2009, aber letztlich blieb alles beim alten.
Und was konnten die Memoranden dann doch bewegen?
Wir waren und sind bei einigen Themen innovativ, etwa in Sachen Arbeitszeitverkürzung. 1984 hatten wir den Gewerkschaften die ökonomische Begründung der 35-Stunden-Woche geliefert. Außerdem hatten wir schon früh, so ab 1980, in dem von uns geforderten Zukunftsinvestitionsprogramm die Notwendigkeit des ökologischen Umbaus zum Thema gemacht. Allerdings wird das Memorandum in den ökologischen Bewegungen, bei den Grünen, von mir aus auch bis in Attac hinein, bis heute nicht so richtig ernst genommen. Der dritte Punkt, wo wir rückblickend stolz sein dürfen, ist die deutsche Einigung. Wir haben nach 1990 ostdeutsche Kollegen in unsere Arbeit integriert. Im Gegensatz zu allen anderen wissenschaftlichen Analysen, die immer aus dem Westen kamen, haben wir viele Argumentationen aus dem Osten aufgenommen. Und schließlich haben wir früh durch unseren Ableger, die Europäische Arbeitsgruppe, auf EU-Themen gesetzt.
Und mit vielen Ihrer Warnungen vor einer neoliberalen Kehrtwende haben Sie recht behalten.
Entgegen den Versprechungen ist die Arbeitslosigkeit lange Zeit sehr stark gestiegen. Das gilt auch für die Staatsschulden. Diese sind maßgeblich als Folge der konjunkturellen Krisen, aber auch einer längerfristigen Wachstumsabschwächung explodiert. Da man darauf nicht mit einer ordentlichen Finanzierung über ein gerechtes Steuersystem reagiert hat, sind die Schulden weiter nach oben getrieben worden. Und die Schuldenbremse war sozusagen die absolute Kapitulation einer gestaltenden Finanzpolitik. Im Memorandum haben wir nie aufgegeben, kreditfinanzierte öffentliche Investitionen in die Zukunft, beispielsweise die Umwelt und zur Verbesserung der Lebensbedingungen, zu fordern. Dazu muss man zwar kurzfristig die Schulden erhöhen – dadurch entstehen aber auch Vermögen, von denen spätere Generationen profitieren.
Die Schuldenbremse erschwert nun staatliche Investitionsprogramme. Daher versucht die Regierung jetzt, überschüssige private Liquidität durch Öffentlich-Private Partnerschaften zu locken. Ein Irrweg?
Wie bei der Agenda 2010 besteht die Ironie der Geschichte darin, dass unserer Kritik an den Versäumnissen bei öffentlichen Infrastrukturinvestitionen mittlerweile recht gegeben wird. Vor allem im Verkehrssystem gibt es einen gewaltigen Substanzverlust. Wir rechnen mit einem Nachholbedarf von ungefähr 20 Milliarden Euro pro Jahr für die nächste Dekade. Jetzt gibt es einen Kampf darum, wer entscheiden und wer die Infrastruktur finanzieren soll. Aus unserer Sicht sollte dies eine staatliche Aufgabe sein und nicht zum Kapitalanlageinstrument für Lebensversicherungen und Spekulanten werden.
Ihr Credo lautet: Staatliche Investitionen sollen das Wachstum ankurbeln, wodurch auch eine soziale Politik wieder möglich wird. Es gibt aber auch einige Ökonomen, die meinen, alle Probleme im Kapitalismus entstünden durch dessen Wachstumsfixiertheit. Was antworten Sie denen?
Es gibt berechtigte Wachstumskritik. Wir lehnen aber Radikalpositionen ab, die den generellen Ausstieg aus der Wachstumsgesellschaft fordern. Wir brauchen hier einen Kompromiss – und der heißt: qualitatives Wachstum. Bestimmte Bereiche sollen nicht wachsen, andere wie die Atomkraft verschwinden und wieder andere wachsen. Für den ökologischen Umbau brauchen wir auch Beton und Stahl, etwa wenn man die Windenergie ausbaut. Wir setzen zwar auf die Stärkung der Binnennachfrage, gehören aber nicht zu denen, die glauben, dass soziale Probleme nur durch mehr Wachstum gelöst werden können.
Das erinnert an die Debatten der Grünen über den »New Green Deal«. Wollen Sie sich da einbringen?
Die Grünen setzen in der Wirtschaftspolitik auf Anreize wie die Ökosteuern, die die Unternehmer dazu bewegen sollen, rationale Entscheidungen zu treffen. Wir hingegen sind für einen gestaltenden Staat und eine materielle Infrastrukturpolitik. Hierbei ist die LINKE sozusagen unser natürlicher Partner, weil dort ähnlich gedacht wird. Unser Prinzip ist es aber, parteipolitisch unabhängig zu sein. Wir sind nicht der Denk-Tank für bestimmte Parteien. Mit der SPD haben wir intensiv gerungen, da gab es viele Gespräche. Wir hatten positivere Erwartungen, aber unterschätzten wohl die Bedeutung der Machtfrage. Die SPD hat uns immer als Störfeuer empfunden.
Würde das Memorandum nicht als das wirtschaftspolitische Konzept einer rot-rot-grünen Regierung auf Bundesebene taugen?
Nein, denn ein politisches Programm müsste man anders formulieren. Aber für ein rot-rot-grünes Bündnis könnte das Memorandum eine gute Basis sein, auf der sich ein solches Programm entwickeln ließe. Das gilt für die Frage der Armutsbekämpfung genauso wie für die Steuerpolitik.
Kaum zu glauben, aber ganz früher standen die Mitglieder der Memorandum-Gruppe unter Kommunismusverdacht. Ihnen wurde ja sogar mal unterstellt, aus der DDR finanziert zu werden, weil Sie im Pahl-Rugenstein-Verlag publizierten.
Als der damalige Gewerkschaftssekretär Jürgen Peters, später IG-Metall-Chef, unser Memorandum mit seiner Unterschrift unterstützte, wurde ihm mit der Abmahnung gedroht. Und als die DDR zusammenbrach, rechneten manche mit dem Ende des Memorandums. Das Faszinierende ist, und so werde ich es auch bei unserer 40-Jahr-Feier sagen: Der Beweis, dass wir nie abhängig waren von DDR-Institutionen, ist nach der Wende geliefert worden. Uns gibt es weiterhin. Wir finanzieren uns schlicht und einfach über Mitgliedsbeiträge und Spenden der Menschen, die uns und unsere Ideen unterstützen. Wir bekommen bis heute keinen Cent an Subventionen vom Staat oder von partei- oder gewerkschaftsnahen Stiftungen.
Wie viele Ökonomen machen zur Zeit aktiv mit?
Der harte Kern besteht aus etwa 30 Ökonomen, die sich drei Mal jährlich treffen, das Memorandum vorbereiten und sich die Redaktionsarbeit aufteilen. Und dann gibt es einen Diskussionsprozess, der einer sympathischen Variante des Chaos gleicht. Ich wundere mich manchmal, wie das noch alles funktioniert, denn das Memorandum macht eine Riesenarbeit.
Sie haben gesagt, Ihr eigentlicher Adressat ist die Wirtschaftswissenschaft. Im Zuge der Finanzkrise 2008 geriet die herrschende Lehre in die Kritik, zu marktradikal gewesen zu sein. Plötzlich waren Marx und Keynes wieder gefragt. Hat sich an den Universitäten seither etwas getan?
Auch in Lehrveranstaltungen wird manchmal über Alternativen gesprochen. Und vor zwei Jahren gab es in Nordrhein-Westfalen mal eine Frage, wie wir sie auch im Memorandum stellen. Aber das ist die Ausnahme. Wir haben sowohl die New-Economy-Krise 2000 als auch die Finanzmarktkrise relativ früh kommen sehen und gefordert, dass die Banken entmachtet werden müssen. Aber wir sind dafür nicht belohnt worden. Die Mainstreamwissenschaft ist ja richtig zynisch. Erst gab sie zu, dass ihre Hypothese, deregulierte Finanzmärkte seien effizient, zusammengebrochen ist. Doch dann ging man mit einer unglaublichen Arroganz zur Tagesordnung über – nach dem Motto, vielleicht war die Krise nur ein singuläres Ereignis. Dies wurde kürzlich bei einem Kongress mit Wirtschaftsnobelpreisträgern in Konstanz deutlich. Da hat mir Angela Merkel zum ersten Mal gefallen: Sie warf diesen Ökonomen vor, die Krise erst nicht vorhergesehen, dann die Regierung falsch beraten zu haben und jetzt wieder eine große Klappe zu haben.
Warum ist gerade die deutsche Wirtschaftswissenschaft so wenig lernfähig?
In den USA gab es immer schon Pluralismus und prominente Querdenker. Deutschland hat eine preußisch-teutonische Schulbildung. Dass der Markt funktioniert, ist einfach ein Gesetz. Und so führte auch die Finanzmarktkrise nicht zur Öffnung an den Universitäten, sondern im Gegenteil zu noch mehr Abschottung der herrschenden Lehre, weil die Gefahr groß war, dass unsere Ideen an Anerkennung gewinnen. Ich sehe das bei der Berufungspolitik. Leute von uns haben überhaupt keine Chancen.
Das ist die Professorenseite. Unter Studenten gibt es einige kleine Gruppen, die ein neues Denken in der Wirtschaftswissenschaft einfordern. Entsteht dadurch Druck?
Es gibt die Heterodoxen, aber die sind noch viel zu schwach. Also ich hege und pflege jedes kleine Pflänzchen, aber man durchbricht das System erst, wenn man ein paar Eckprofessuren mit kritischen oder linken Leuten besetzt. Hier sehe ich keine Chancen.
Das Memorandum 2015, das gerade erscheint, hat wieder gut 250 Seiten. In einer Zeit, in der sich auch manche Linke an Nachrichtenaustausch in Twitter-Länge gewöhnen – warum sollte man es lesen?
Vielleicht sollten wir Twitter, Facebook etc. stärker nutzen. Aber das Buch ist das Format der Aufklärung. Und wir haben auch ein Angebot für solche Lesegewohnheiten – zu jedem Memorandum veröffentlichen wir eine Kurzfassung. Über die neuen Medien findet eher ein Desorientierungsprozess statt. Auf Twitterlänge hat man nicht die Chance, sich frei zu machen von der herrschenden Ideologie. Wir bieten eine andere Interpretation der wirtschaftlichen Entwicklung und zeigen alternative Gestaltungsmöglichkeiten auf. Das ist unser Versuch der Aufklärung.
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