Klackern für die Weltrevolution

»kritisch lesen« reanimiert das angestaubte Konzept der Gegenöffentlichkeit

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit vier Jahren erscheint das linke Onlinemagazin »kritisch lesen«. In Rezensionen und Debattenbeiträgen greift das Kollektiv in jeder Ausgabe anhand eines Schwerpunktthemas in politische Debatten ein.

Es klackert. Rundherum sitzen junge Menschen an einem Tisch und hauen in die Tasten ihrer Laptops. Sie nippen an Kaffeetassen, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Sieht man von den antikapitalistischen Plakaten an den Wänden ab, könnte man sich in einer Freelancer-Lounge in Prenzlauer Berg wähnen und nicht im Gemeinschaftsraum eines linken Wohnprojekts in Kreuzberg. Da ruft Andrea Strübe augenzwinkernd den nächsten Tagesordnungspunkt auf: »Dann lasst uns mal die revolutionären Texte besprechen.«

Über das gesamte Wochenende geht sie, die Konferenz der sechsköpfigen Redaktion des linken Onlineprojekts »kritisch lesen«. Alle drei Monate erscheint eine neue Ausgabe. Die nächste muss Anfang Juli stehen. »Das klingt nach ewig langem Vorlauf«, gesteht Strübe in einer Debattenpause ein, »aber hier steckt ungemein viel Arbeit drin.« Schließlich seien ein langes Interview, ein Essay und vierzehn Rezensionen zu diskutieren. Zehn von ihnen besprechen Bücher zum aktuellen Schwerpunktthema: »Neue Bürgerlichkeit«.

Wie es bei Linken üblich ist, verlaufen inhaltliche Diskussionen auch hier selten völlig reibungslos. Darauf angesprochen, muss Sara Madjlessi-Roudi lachen: »Das ist sicher mehr als nur ein Klischee. Manchmal geht es bei uns kontrovers zu, und hin und wieder schmeißen wir auch sogar Texte raus, wenn sie uns nicht gefallen.« Das komme aber längst nicht mehr so oft vor wie früher.

Vier Jahre ist es mittlerweile her, dass sich das Kollektiv gegründet hat. Damals, erklärt Madjlessi-Roudi, wollte man nicht nur linken Büchern mehr Aufmerksamkeit widmen, sondern auch an politischen Debatten aktiv teilnehmen: »Es ging uns von Anfang an um die Begleitung aktueller Diskussionen durch Gegenöffentlichkeit.« Gegenöffentlichkeit: welch ein angestaubter Begriff. Hier aber soll er mit Leben gefüllt werden.

Steht ein Schwerpunktthema fest und wurde der Rezensions-Aufruf über die E-Mail-Verteiler und durch die sozialen Netzwerke gejagt, betreut jeder Redakteur und jede Redakteurin eine bestimmte Anzahl an Autorinnen und Autoren. Im internen Online-Forum sind alle berechtigt, die einlaufenden Texte zu kommentieren und zu bearbeiten, bis sie dann im Plenum bei der Konferenz abschließend debattiert werden. Das ist basisdemokratisch, birgt aber auch Konfliktpotenzial: »Im vergangenen Jahr«, sagt Strübe, »hatten wir einen Schwerpunkt zum Thema ›Krieg und Frieden‹. Da ging es hoch her.«

Da die Redaktion aus Menschen mit unterschiedlicher politischer Sozialisation bestehe, sei es bei brisanten Themen schon zu Austritten aus der Redaktion gekommen. Mittlerweile habe sich aber eine Gruppe gefunden, die undogmatisch vom poststrukturalistischen bis zum materialistischen Ansatz fast alle linken Strömungen bei »kritisch lesen« integrieren könne. Im »Autor_innen- und Sympathisant_innenkreis« (ASK) tummeln sich inzwischen fast 50 Leute.

Im Idealfall organisiert das Sextett zusätzlich zum jeweiligen Schwerpunkt Lesungen und Diskussionsveranstaltungen, »um die Debatte noch unmittelbarer zu machen«, wie Strübe es formuliert. Alles in der Freizeit, denn leben kann die Redaktion davon ebenso wenig wie sie Honorar an die Schreibenden zahlen kann. Allerdings werde »kritisch lesen« immer stärker wahrgenommen. Und hohe Klickzahlen als Anerkennung, das sei schon mehr, als man sich anfangs erhofft hatte. Das Klackern geht weiter!

Webseite: www.kritisch-lesen.de

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