Kompetenz gewonnen, Prozente gewonnen
Progressive Milieus und der Wert »soziale Gerechtigkeit«: Die Linkspartei schneidet in Bremen überdurchschnittlich bei Jüngeren, Selbstständigen und Erwerbslosen ab. Eine erste Analyse der Zahlen
(Stand von Sonntagabend, 22 Uhr): Das Bremer Wahlrecht lädt eigentlich nicht zu schnellen Analysen ein – ein vorläufiges Endergebnis soll es erst am Mittwoch geben, bis dahin müssen die Stimmzettel der 426 Urnen- und 131 Briefwahlbezirke ausgezählt werden. Allerdings lassen sich auch schon am Wahlabend ein paar Überlegungen anstellen, im Folgenden soll es um das Abschneiden der Linken gehen.
Die Bremer Spitzenkandidaten Kristina Vogt wie auch die Bundesspitzen der Partei haben am Sonntag immer wieder auf die »klare, konstruktive Oppositionsarbeit« in der Bürgerschaft als wichtigsten Grund für die prognostizierten Zugewinne hingewiesen. Linken-Chef Bernd Riexinger sagte gegenüber »nd«, die Partei sei »die einzige politische Kraft« gewesen, die »entschieden gegen die soziale Spaltung des Landes« Politik gemacht habe. Die Forderungen seiner Bremer Genossen »nach mehr bezahlbarem Wohnraum, humaner Behandlung der Flüchtlinge, Investitionen in die Bildung und ein Ende der entwürdigenden Sanktionen für Hartz IV-Beziehende haben viel Zuspruch im Wahlkampf gefunden«, so Riexinger.
Laut vorläufiger Zahlen von Infratest dimap, die sich unter anderem aus Nachwahlbefragungen speisen, hat sich dieser Zuspruch auch im Wahlergebnis eingeprägt. So hat die Linkspartei unter Erwerbslosen ein klar überdurchschnittliches Ergebnis erzielt (15 Prozent), sie liegt in dieser sozialen Gruppe nur knapp hinter den Grünen (16 Prozent), die SPD kommt hier auf 34 Prozent. Unter Arbeitern kommt die Linkspartei auf 10 Prozent, das würde – sollten sich die Prognosen bestätigen – etwa im Bereich ihres Gesamtergebnisses liegen.
Etwas darüber, und das ist durchaus interessant, liegt das Ergebnis (laut der Nachwahlbefragungen) unter den Selbstständigen. Dass es sich um alteingesessene Mittelständler handelt, ist nicht so wahrscheinlich. Eher könnte sich hier ein wachsender Zuspruch bei abstiegsbedrohten Klein- oder Einzelunternehmern sowie unter so genannten New Workers abzeichnen, also Menschen, die jenseits klassischer Angestelltenverhältnisse zum Beispiel als digitale Selbstständige arbeiten, ohne deshalb im alten Sinne »Unternehmer« zu sein.
Auffällig ist, dass die Linkspartei unter Rentnern deutlich unter ihrem Durchschnitt abschneidet – sie liegt hier bei 6 Prozent. Das korrespondiert zum Teil wohl mit ihrem schwachen Ergebnis bei den über 70-Jährigen (4 Prozent). Könnte aber auch mit der derzeit geringen Zugkraft des Rententhemas zu tun haben – zwar sind Altersarmut und die beständigen Versuche, die Rentenungerechtigkeit etwa durch Anhebung des Eintrittsalters noch zu verstärken. Aber in der Medien und bundespolitischen Öffentlichkeit dominieren ganz andere Themen, landespolitisch »zieht« die Rente (also auch eine linke Rentenpolitik) ohnehin kaum.
Der entscheidende Schub, der die Linkspartei auf ihr bisher bestes Ergebnis in Bremen hieven könnte, hat mit der gewachsenen Kompetenz in Sachen »soziale Gerechtigkeit« zu tun – und mit einer gewissen politischen Nachhaltigkeit, die es erst erlaubt, Kompetenzwachstum zu bilden. 2003 nannte nur 1 Prozent der Befragten die Linke auf die Frage, »Welche Partei sorgt für soziale Gerechtigkeit«. 2007 – damals zog die Linkspartei in Bremen in ihr erstes westdeutsches Landesparlament ein - waren es schon 7 Prozent, 2011 dann 9 Prozent.
Vor der Wahl am Sonntag nannten nun bereits 17 Prozent die Linkspartei als diejenige mit der höchsten Kompetenz für soziale Gerechtigkeit. (Die SPD die 2007 noch 51 Prozent genannt hatten, wurde 2015 nur noch von 41 Prozent als die Partei bezeichnet, die soziale Gerechtigkeit schafft. Auch bei den korrespondierenden Kompetenzwerten Familienpolitik (9 Prozent – plus fünf) und Bildungspolitik (8 Prozent – plus fünf) legte die Linkspartei gegenüber 2011 klar zu.
Linken-Chef Riexinger hatte am Wahlabend warnend auf die für Bremen historisch schwache Wahlbeteiligung hingewiesen. Die »soziale Polarisierung in Bremen« sei »inzwischen auch eine demokratische Polarisierung«, sagte er in der ARD. Menschen in den ärmeren Stadtteilen würden immer weniger wählen gehen. Die niedrige Wahlbeteiligung sei daher »in Wirklichkeit ein soziales Problem«, über das alle Parteien nachdenken müssten.
Hier kommt nun ein interessanter Zusammenhang zum tragen – oder auch nicht. Wenn die Annahme richtig ist, dass die Linkspartei gerade von jenen gewählt wird, die sich davon eine Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage versprechen, müsste die Linkspartei auch unter der »sozialen Spaltung der Demokratie« am ehesten leiden. Das Abschneiden in Bremen spricht ein wenig dagegen, wobei keine Annahmen darüber getroffen werden können, wie die Linkspartei abgeschnitten hätte, wenn die Wahlbeteiligung höher gelegen hätte – vor allem unter den Ärmeren.
Laut der Nachwahlbefragungen von Infratest dimap liegt der Anteil der Wähler, die ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlecht bezeichnen, mit 26 Prozent deutlich höher als bei allen anderen Parteien. (Bei der FDP sind es nur 8 Prozent, bei der Rechtspartei AfD 20 Prozent, CDU, SPD und Grüne liegen dazwischen.) Zugleich aber geben 71 Prozent der Linken-Wähler an, dass ihre persönliche wirtschaftliche Lage gut sei.
Die Partei wird also auch, aber eben keineswegs vorrangig von den sozial Ausgegrenzten gewählt – sondern, Bremen ist Stadtstaat, wohl auch von progressiven Milieus, Akademikern, Angestellten im sozialen und öffentlichen Sektor, die ihre wirtschaftliche Lage als gut bezeichnen, in denen aber der Wert Solidarität höher liegt und die Aufgeschlossenheit gegenüber einer linken Partei größer ist.
Dafür sprechen, jedenfalls ein wenig, auch die Stimmenanteile der Linken in den verschiedenen Altersgruppen. Die höchsten Werte erhält die Partei unter den 16- bis 24-Jährigen (12 Prozent) und den 25- bis 34-Jährigen (12 Prozent). Hier dürften die von Riexinger genannten Themen »bezahlbarer Wohnraum, humane Behandlung der Flüchtlinge, Investitionen in die Bildung« auf fruchtbaren Wählerboden gefallen sein. (Nachtrag Montag, 7 Uhr: In Bremerhaven, das mit größeren Armutsproblemen zu kämpfen hat, erreichte die Linke 7 Prozent, in Bremen 9,6 Prozent)
Zu einer ersten Analyse des Abschneidens der Linken in Bremen gehört auch ein kurzer Blick auf die – zumindest am frühen Wahlabend ein bisschen virulente – Frage nach einer möglichen rot-rot-grünen Option. Da SPD und Grüne wegen der deutlichen Verluste um eine gemeinsame Mehrheit bangen mussten, spielte das Thema auch in den diversen Politikerrunden eine Rolle.
Während Linken-Chef Riexinger erklärte, man werde am Wahlabend nicht über eventuelle Koalitionsoptionen diskutieren – sondern feiern, erklärte SPD-Bürgermeister Jens Böhrnsen das Thema faktisch schon für beendet. Er sehe in einer Zusammenarbeit mit der Linken »keine Option«. Bremens grüne Bürgermeisterin Karoline Linnert meinte, über ein Dreierbündnis mit den Linken habe ihre Partei noch gar nicht diskutiert.
Linken-Spitzenkandidatin Kristina Vogt wurde mit den Worten zitiert, »als Mehrheitsbeschaffer stehen wir nicht zur Verfügung«. Schnittmengen würde es nur dann geben, »wenn sich SPD und Grüne vom Dogma der Schwarzen Null verabschieden« und ehrliche Angebote machten, etwa zur Neueinstellung von ausreichend Lehrern. In der Berliner Runde der ARD am Sonntagabend sagte der Bundesgeschäftsführer der Linken, Matthias Höhn, zur Koalitionsfrage: Rot-Grün stehe nicht für einen Politikwechsel. Die Linkspartei regiere aber nur dann mit, wenn ein Politikwechsel auch stattfinde.
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