Die bellizistische Presse jubelte
Willi Jasper erinnert an den Untergang der »Lusitania« vor 100 Jahren - eine neue Eskalation des Krieges
Etwa 25 Sekunden surrte der Torpedo durch die eiskalte See. 25 Sekunden, um nach etwa 700 Metern die Stahlwände zu zerreißen, 25 Sekunden, die 1198 Menschen sterben ließen, darunter 94 Kinder und 287 Frauen.
Vor 100 Jahren, am 7. Mai 1915 gegen 15.10 Uhr, gab der Kapitän des kaiserlich-deutschen U-Boots U-20, Walther Schwieger, den Befehl zum Abschuss des Torpedos auf das britische Passagierschiff RMS »Lusitania«, das nach einwöchiger Atlantiküberfahrt von New York nach Liverpool kurz vor dem Ziel war. Das Schicksal des Ozeanriesen, der am 1. Mai 1915 mit 1258 Passagieren und 701 Besatzungsmitgliedern an Bord startete, war besiegelt. Eine zweite noch heftigere Explosion beschleunigte den Untergang. Schon nach wenigen Minuten, um 15.28 Uhr, versank der Dampfer vor der Südküste Irlands.
Der »Große Krieg« wütete schon über neun Monate, immer mehr Staaten suchten sich ihren Platz im gegenseitigen Abschlachten. Mit dem totalen U-Boot-Krieg wollte das kaiserliche Deutschland ein weithin sichtbares Zeichen des Schreckens setzen. Der Untergang der »Lusitania« bot konservativen, nationalistischen Verschwörungstheoretikern eine Plattform für wilde Spekulationen, die bis heute nicht verstummen. Großbritanniens damaliger Marineminister Winston Churchill habe das Schiff absichtlich ins Unglück fahren lassen, um die USA zu einem Kriegseintritt zu bewegen. Unter den Opfern befanden sich 128 US-Amerikaner. Die USA traten jedoch erst am 6. April 1917 ein.
Es seien deutsche Spione mit an Bord gewesen, um das Schiff den Jägern weidgerecht zu servieren, hieß es in damaligen Berichten. Die britische Admiralität, eine weitere Kost aus der Propagandaküche, habe die »Lusitania« bewusst vor die Torpedorohre deutscher U-Boote gelenkt, um die Welt gegen die deutsche Kriegsführung aufzubringen. Schließlich habe der Kapitän des Luxusdampfers, William Thomas Turner, die Katastrophe selbst verschuldet, weil er - allen Warnungen zum Trotz - den Todeskurs einschlug. Selbst die Passagiere wurden zu Mitschuldigen erklärt, da in großen US-amerikanischen Zeitungen vorab Warnanzeigen der deutschen Botschaft publiziert worden seien und die Passagiere so rechtzeitig von der möglichen Konfrontation mit deutschen Kriegsschiffen erfahren hätten.
Die »Lusitania« hatte auf ihrer letzten Fahrt, wie spätere Tauchgänge ergaben, Munition an Bord, war aber weder bewaffnet noch der britischen Admiralität unterstellt. Es bleibt unter dem Strich ein eiskalter, wohlkalkulierter Mord, bei dem ein Passagierschiff ohne Vorwarnung und ohne Kontrolle auf militärische Güter versenkt wurde.
In der Logik des Meereskrieges spielen menschliche Überlegungen keine Rolle. Der Tod wurde in Tonnen gerechnet, nicht nach Opfern. Über 30 000 Tonnen brachte die »Lusitania« in die Abschussbilanz der U-20 ein. 36 versenkte Schiffe mit einem Gesamtgewicht von 144 000 BRT waren es insgesamt. Das Ende der U-20 war unspektakulär. Am 4. November 1916 lief es vor der dänischen Küste auf eine Sandbank, konnte nicht mehr flottgemacht werden und wurde einen Tag später von der Besatzung gesprengt.
100 Jahre nach dem Geschehen hat sich der Publizist und Kulturwissenschaftler Willi Jasper dieser Geschichte angenommen. Zum Jubiläum, am 7. Mai, stellte er in der Berliner Humboldt-Universität sein Buch auf Einladung der Deutsch-Britischen Gesellschaft vor.
Jasper befreit die Tragödie von allen Mythen, Erklärungs- und Rechtfertigungsversuchen und nennt das Geschehen klar ein gigantisches Verbrechen, das die Tür öffnete für neues, größeres Unrecht. Anders als beim Untergang der »Titanic«, wo die Welt im Entsetzen über das Schicksal der Passagiere vereint war, teilten sich nun die Emotionen. Deutschland feierte den Untergang der »Lusitania« und viele Geistesgrößen jener Zeit stimmten ein in den Chor der Kriegsversteher.
Literaten wie Thomas Mann, Intellektuelle, große Teile des Klerus stellten sich an die Seite der Mörder und bejubelten den Torpedoschuss. Von den Kanzeln wurde der Krieg ein »heiliger« genannt und die Täter als »Helden« geadelt. Alle sozialen Schichten waren dabei. Für das jubelnde Volk befand sich Deutschland in einem dramatischen Überlebenskampf, der nur mit immer barbarischeren Mitteln zu bestehen war. Die Presse jubelte. »Endlich ist unseren U-Booten ein großer Fang gelungen«, schrieb die »Westfälische Tages-Zeitung«. Der nationalistische Pathos hielt Einzug in den Familien.
Die Kriegskritiker waren in der Minderheit und wurden als »Vaterlandsverräter« ins Abseits gestellt. Die Mahnung Karl Liebknechts, »Der Hauptfeind steht im eigenen Land«, verhallte in der allgemeinen Kriegshysterie. In westlichen Staaten, bestätigte sich mit der Versenkung der »Lusitania« das Bild vom schrecklichen Deutschen. Westliche Zivilisation gegen deutsche Kulturbarbarei.
Der Krieg braucht Begeisterung für den eigene Soldaten und Hass auf den Feind. Dazu müssen Theorien, Legenden, Deutungen her. Und anerkannte Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft, die sie verbreiten. Der Untergang der »Lusitania« eignete sich bestens für die Propagandaschlacht auf beiden Seiten. Die Menschen sind leicht manipulierbar, sie sehen die Welt ganz im Sinne der herrschenden Propaganda. Sie können sich, so scheint es, dem nicht entziehen.
Obwohl die heutigen Konflikte nicht vergleichbar sind mit den Schlachten der Vergangenheit, so bringen sie doch immer wieder ähnliche Verhaltensmuster hervor. 100 Jahre später bleibt die bittere Erkenntnis: Es ist nur ein ganz kleiner Schritt vom Massenmord mit einem Torpedo und den öffentlichen Hinrichtungen des IS. »In Kriege schliddert man nicht hinein - sie werden nicht zufällig von Technologien provoziert, sondern von Menschen organisiert und von Ideologien und kulturhistorischen Traditionen vorbereitet«, schreibt Jasper. Und: Die geistige Elite dieses Landes habe 100 Jahre nach dem Untergang der »Lusitania« und im 70. Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die historische Chance, für eine positive Kontinuität und ein neues Europa zu wirken.
Willi Jasper: Lusitania - Kulturgeschichte einer Katastrophe. be.bra Verlag, Berlin 2015. 208 S., geb., 19,95 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.