Unter Ölmännern

Martin Leidenfrost besichtigte die Tristesse der Petrolmetropolen Aberdeen und Baku

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 4 Min.

In die britische Ölhauptstadt Aberdeen fuhr ich der Vollständigkeit halber hinauf. Ich hatte in diesem schönen Leben schon Atomstädte, Kohlestädte, Uranstädte, Manganstädte und Gasstädte durchstreift, besonders ausgiebig aber die Mutterstadt unserer Ölzivilisation, Baku. Zur vorletzten Jahrhundertwende kam die Hälfte der weltweiten Ölförderung aus dem ölgetränkten und gasdurchzischten Erdreich dort. Als ich in Baku landete, war mein erster Eindruck: Es riecht nach Öl.

Ich ging damals unter die Ölmänner. Die heutige Hauptstadt Aserbaidschans empfing mich als Komposition aus sandfarbenem Klassizismus, durch die westliche Mitarbeiter der Mineralölindustrie als Kuhhirten verkleidet liefen. Seit Aserbaidschan 1994 den »Vertrag des Jahrhunderts« schloss, der den Konzern BP über alle bestehenden und künftigen Gesetze Aserbaidschans stellt, sind die meisten Mineralölkonzerne in Baku vertreten. Seither sind immer einige Tausend Westler im Land. Unter ihnen war ein runzliger Texaner, der mich im Lift des Hyatt-Hotels anquatschte: »Gehst auch auf ein Bier, Dude?« Er besorgte die Fernsteuerung von mit Bohr-Equipment beladenen Schiffen, deren Betrieb 150 000 Dollar pro Tag kostete. Er bezeichnete sich als »Consultant«.

In des Texaners liebster Westler-Bar war nur ein einziger Gast elegant gekleidet. Er streckte oft die Zunge heraus und ließ sie einem lüsternen Tier gleich über die Lippen gleiten. Der Engländer rümpfte die Nase über meinen Anzug, weihte mich aber in die Kunst der Herrenausstattung ein. Er wusste, wie man die Lebenserwartung einer Manschette verdoppelt. Er empfahl mir einen günstigen Hemdenschneider in London, einen günstigen Anzugschneider in London, einen günstigen Sockenhändler in London, eine günstige Manschettenknopfmanufaktur in London. Hätte ich meinen Notizzettel nicht verloren, wäre ich heute elegant. Der Engländer war Finanzberater. Er sagte, dass die ausländischen Spezialisten durchschnittlich 150 000 Dollar im Jahr verdienten. Ein Aserbaidschaner hatte circa ein Hundertstel davon. Der Finanzberater war zufrieden. In anderen Expat-Lokalen umkreisten mehr Huren als Westler die Billardtische. Die Prostituierten stammten aus den Hungertälern des Kaukasus, die Männer häufig aus Schottland. Warum? Weil die britischen Förderplattformen nicht vor der englischen, sondern vor der schottischen Küste liegen.

So fuhr ich also bei Gelegenheit auch mal nach Aberdeen. Die »Silver City« aus schottischem Granit hätte ich mittelgrau genannt, an Baku erinnerten die verdorbenen Preise. In den 70ern waren Texaner eingefallen, die Dom Perignon in Kisten und Frauen in silbrigen Fuchspelzjacken liebten. Nun ja, die Ölbranche hatte sich seither schottisiert. Die Ölklubs antworteten nicht auf meine Anfragen, auch nicht der Klub der Ölmännergattinnen. Ich setzte mich vor dem Bahnhof auf eine Parkbank, biss grübelnd in einen Apfelkuchen, als mir derselbe auch schon von einer räuberisch sturzfliegenden Möwe entrissen ward.

Ich ging ins Hafenviertel, nebenbei eine Toleranzzone für Straßenprostitution, da hoffte ich Ölmänner zu finden. Das war blödsinnig gedacht, die Toleranzzone war außerdem aufgehoben. Zu Mittag erzählten einander im Mittagscafé »Auld St. Clemens« zwei Business-Lebemänner, wie viele Proseccos sie am Wochenende gehabt hatten und zu welchem Preis. Die Wirtin machte mich ein wenig schlauer. »Die Ölmänner verstecken ihr Geld vor dem Finanzamt«, erzählte sie. Anfänger verdienten auf den Plattformen 45 000 Pfund, höhere Ränge 100 000 bis 150 000. »Viele Vertragsarbeiter deklarieren sich als Ltd., leben aber offiziell auf Teneriffa. Sie sind weniger als die Hälfte der Zeit hier und zahlen hier keine Steuern. Die sitzen auf ihren Pennies.«

Am Abend ging ich ins »Prince of Wales«, ein bevorzugtes Pub der Ölbranche. Ich traute meinen Augen nicht. Da saß ein Onkelchen mit Halbglatze hinter einem Mikrofon, las stundenlang Kreuzworträtselfragen vor, und die Gäste am Tresen und an den Tischen kritzelten stundenlang ihre Antworten auf Zettel. In den Fragen kam der ganze Commonwealth vor, Kontinentaleuropa kein einziges Mal. Man amüsierte sich königlich. »Na, welcher Präsident der USA war Erdnussfarmer?« Auf dem Höhepunkt gab Onkelchen mit einem Studienratskichern die Lösungen bekannt. Soviel zum Rausch des schwarzen Goldes, auf die schottische Art.

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