Ängste auf beiden Seiten

Nach dem portugiesischen Kolonialkrieg im Mosambik entstand eine tiefe Freundschaft. Von Hans-Gerd Öfinger

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 7 Min.

Gute Freunde sind der Mosambikaner Alberto Nanqueto (51) und der Portugiese Carlos Vicente (71) seit über zwei Jahrzehnten. An diesem Sonntagmittag haben sie in Albertos Wohnung in Wiesbaden gemeinsam gekocht und mit Angehörigen gespeist. Beim Nachmittagskaffee denken sie in aller Ruhe an wechselvolle Jahrzehnte und Kolonialkriegserfahrungen zurück, die sie schließlich über lange Umwege zusammenführten und ihre Freundschaft besiegelten.

»Wer hätte das früher gedacht, dass wir hier als Freunde zusammen sitzen, ich als Schwarzer inmitten von Weißen?«, freut sich der drahtige und stets jugendlich wirkende Alberto sichtlich. »Jemand sagte mir, dass ein Mosambikaner in den Räumen des Portugiesischen Vereins in Wiesbaden sei. Da bin ich sofort hingegangen«, erinnert sich Carlos an ein Wochenende in den frühen 1990er Jahren, als ihm Alberto zum ersten Mal begegnete. »Wir haben sofort miteinander geredet, ich lud ihn zum Essen nach Hause ein, damit er meine Familie kennenlernt.« Wenige Wochen später setzten sich die beiden zusammen mit anderen portugiesischen Kriegsveteranen in den Vereinsräumen an einen Tisch und tauschten Erfahrungen, Gefühle und Ängste auf unterschiedlichen Seiten der Kriegsfront aus. Mit Tränen in den Augen lagen sich die Männer schließlich in den Armen.

Schulprojekt Banhine

Ein Klassenzimmer für die Kinder in Banhine, damit sie auch bei Regen
und großer Hitze unterrichtet werden können, ist das aktuelle Projekt von Lisa und Heinz Reich. Mit einer Überweisung auf das folgende Spendenkonto kann der
Schulbau unterstützt werden: Konto 1100 5981 93, BLZ 160 500 00, MBS Potsdam, Verwendungszweck: Schulbau Mozambique

Mosambik spielte im Leben des jungen Carlos eine prägende Rolle. Schließlich führte das NATO-Land Portugal bis 1975 in den Überseekolonien Mosambik, Angola, Guinea-Bissau und Kapverdische Inseln Kriege. Wie viele aus seiner Generation in Portugal war Carlos in jungen Jahren in Mosambik unfreiwillig als Soldat im Einsatz, dabei über längere Zeit auch in Albertos Heimatregion, der Provinz Nampula im Nordosten des Landes.

Der 1944 geborene Carlos hat in seiner Kindheit Entbehrungen und Armut erfahren. Als eines von sechs Kindern in einem kleinen Häuschen mit gestampftem Lehmboden aufgewachsen, ging er schon mit zwölf Jahren in Marinha Grande, dem Zentrum der portugiesischen Glasindustrie, in die Fabrik. Später folgte der Militärdienst. Er heiratete eine Jugendfreundin, doch die Hoffnung, durch die Eheschließung vom damals eskalierenden Kriegsgeschehen in den Überseekolonien verschont zu bleiben, ging nicht auf. Es war ein Kolonialkrieg, in dem »Soldaten als Kanonenfutter missbraucht« wurden, so Carlos. Er geriet in Mosambik mitten in den Krieg, der viele seiner Generation bis zum heutigen Tag traumatisiert hat. »Ich habe Szenen erlebt, die schwer zu beschreiben sind.« So seien einmal vor seinen Augen »elf Soldaten in einem Wagen vor mir in die Luft geflogen«. Dabei sei ein Riesenkrater entstanden. »Von den Soldaten war nichts mehr zu sehen. Erst Monate später hat man viele Meter entfernt noch einen Stiefel mit einem Fuß drin gefunden.«

Seine ersten Lebensjahre verbrachte der 1963 geborene Alberto in dem kleinen Dorf Netia. Ob sich dabei das Kind und der Rekrut in jenen Jahren zufällig begegnet sind, weiß kein Mensch. »Man sagte uns Kindern, man müsse gegen die Turras-Rebellen kämpfen und unser Land verteidigen«, berichtet Alberto. So hätten schwarze Mosambikaner gegen schwarze Mosambikaner gekämpft - die einen in der portugiesischen Armee, die anderen bei der Befreiungsfront FRELIMO. »Ich hatte als Kind Angst vor den im Jeep vorbeifahrenden portugiesischen Soldaten«, erinnert er sich an jene Jahre.

»Auch wir lebten ständig in Angst und mussten selbst beim Essen fassen und Wasser holen immer das Gewehr mitführen«, sagt Carlos. Aber weil die meisten Soldaten heil herauskommen wollten, gingen sie Konflikten in aller Regel aus dem Weg und suchten ein friedliches Nebeneinander mit den Einheimischen. Es gab viele kleine Tauschgeschäfte, etwa Fleisch gegen Konservendosen oder Wein. Aber stets hegten die Einheimischen Misstrauen, dass die bewaffneten Soldaten ihren Vorteil durchsetzen könnten. »Ein kleiner Junge mit großem Bauch in einem Dorf nahe das Camps ist mir ans Herz gewachsen. Ich teilte mit ihm mein Essen«, so Carlos.

Aber vor allem viele der neuen und kurzfristig im Camp stationierten Soldaten seien ziemlich verroht gewesen und hätten immer wieder für unschöne und brenzlige Situationen gesorgt. Einmal habe ihn ein aufgeregter kleiner Junge herbeigerufen mit den Worten: »Komm schnell, sie wollen der Tante etwas antun.« Er sei mit anderen hingeeilt und habe festgestellt, dass zwei Soldaten der Frau die Bluse aufgerissen hätten und kurz davor gewesen seien, sie zu vergewaltigen. »Ich rief sie zur Räson und forderte die rund 20 anwesenden Kinder auf, die beiden zu umzingeln. Dann brachten wir sie zum Kommandanten. Sie wurden für die Tat bestraft«, berichtet Carlos.

Dass nicht alle Portugiesen seine Feinde waren, erfuhr der junge Alberto schon als Schulkind. So machte sich eine aus Portugal stammende Lehrerin dafür stark, in der katholischen Schule neben den Kindern wohlhabender Portugiesen auch begabte Schüler aus ärmeren einheimischen Familien zu unterrichten. »Sie hat uns Bücher und Schulhefte gekauft und an Weihnachten dafür gesorgt, dass wir Geschenke bekamen.« Durch die Vermittlung eines Lehrers konnte er eine weiterführende Schule in der Stadt besuchen. »Meine Mutter meinte: Wenn Alberto ein Mädchen wäre, dann wäre ich misstrauisch. Also gut.« Aber ein Defizit bei den Lehrinhalten hat Alberto nicht vergessen: »Mosambik ist flächenmäßig sechsmal so groß wie Portugal, aber in der Schule lernten wir nur portugiesische Geschichte.«

Für Carlos war der Rückweg in die Heimat voller Hindernisse. Er blieb unfreiwillig zwei Jahre länger in der Kolonie. Da er in einen Verkehrsunfall verwickelt war, musste er sich vor einem Militärgericht verantworten. Das zog sich alles hin. Erst nach dem Freispruch kehrte er im März 1970 nach Portugal zurück.

»Ich war vom Krieg traumatisiert, aber keiner hat mir geholfen«, so Carlos rückblickend. »In der alten Glasfabrik und unter der bedrückenden faschistischen Diktatur fühlte ich mich nicht mehr wohl. Ich musste weg.« Wie viele Portugiesen, die es in der Spätphase des morschen Caetano-Regimes nicht mehr aushielten, entschied er sich für die Emigration. So kam er Ende 1971 in das Rhein-Main-Gebiet und arbeitete bis zur Rente 35 Jahre lang in einem großen Metallbetrieb. Die »Nelkenrevolution«, die das Ende der Diktatur besiegelte und auf die er vorher nicht zu hoffen gewagt hatte, verfolgte er am 25. April 1974 als Beobachter aus der Ferne. Dass die kriegsmüden jungen Offiziere die Revolte in den Streitkräften angezettelt hatten, konnte er aus eigener Erfahrung nachvollziehen. »Viele kamen von der Uni und wollten nicht in den Krieg ziehen und sterben.« Eine Woche später drückte die arbeitende Bevölkerung massenhaft der »Nelkenrevolution« ihren Stempel auf. Die Oberkommandierenden der Streitkräfte hatten zur Ruhe aufgerufen, aber mehr als eine Million Menschen strömten in Portugal auf die Straßen.

Die Folgen der Revolution veränderten auch Albertos Leben. Im Juni 1975 entließ Portugal die Überseekolonien in die staatliche Unabhängigkeit. Die neue FRELIMO-Regierung in Maputo erhöhte die Bildungsausgaben massiv, richtete neue Schulen und Hochschulen ein und schickte systematisch die besten Schüler zur Ausbildung in befreundete Staaten. Zuvor mussten sie allerdings mehrere Auswahlverfahren absolvieren. »Man wollte sicherstellen, dass nur gut erzogene Schüler zum Zuge kamen, die dem Land keine Schande bereiten sollten.«

So kam der junge Alberto in den frühen 1980er Jahren in die DDR. In Weimar absolvierte er eine Berufsausbildung als Dreher und weitere Lehrgänge. Mit seinem Fachwissen leitete er viele Nachwuchskräfte an. Ende der 1980er Jahre gründete er eine Familie.

Erst das Ende der DDR beendete auch Albertos Aufenthalt in Weimar. »1991 gab es massiven Personalabbau. Ich sollte in eine Leiharbeitsfirma abgeschoben werden und war sehr unzufrieden.« Auf dem Weg zu einem in Darmstadt lebenden mosambikanischen Freund lernte er im Zug eine im Rhein-Main-Gebiet verwurzelte Portugiesin kennen. Eine Metallarbeiterin in ihrem Bekanntenkreis vermittelte ihm Kontakt zu ihrem Arbeitgeber, der damals händeringend Dreher suchte. So wurde Alberto in Wiesbaden sesshaft und arbeitet seither ununterbrochen bei einem großen Automobilzulieferer.

Carlos ist inzwischen wieder in die alte Heimat Marinha Grande zurückgekehrt, wo Alberto als Gast in seinem Haus immer willkommen ist. Der Gesprächsstoff dürfte ihnen dabei auch in den kommenden Jahren nicht ausgehen. Schließlich sind die Folgen von Kolonialkriegen und Nelkenrevolution immer noch allgegenwärtig und ist vieles noch längst nicht aufgearbeitet.

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