Carrom hält jung
Wo Steine wie Rehe laufen und wie Vögel hüpfen
Dieser Mann feiert sein Hobby in einer Hymne und wird bei allen Gleichgesinnten punkten, so lange sich noch zwei Menschen zu einem Match treffen. Arif Naqvi besingt das Carrom, denn schließlich ist er ein Mann vom Fach. Seit gut drei Jahrzehnten promotet er hierzulande jenes Spiel, das vor allem in Indien und Sri Lanka ein Volkssport ist. Der 81-Jährige ist Berliner und stammt aus Lucknow im nordindischen Uttar Pradesh. Unser Autor René Gralla erfuhr bei ihm, wie die kleine Billardvariante, bei der Kugeln durch runde Steine ersetzt werden und der Queue komplett wegfällt, zu literarischem Schaffen anregen kann und obendrein ungeahnte Fähigkeiten als Muntermacher entfaltet.
Mögen Sie für unsere Leser ein paar Zeilen aus Ihrem Carrom-Lied vortragen?
Zwei oder vier Personen (dann bilden die einander gegenüber sitzenden Spieler ein Doppel) können ein Match (in der Fachsprache: »Board«) im Carrom austragen. Jeweils neun weiße und schwarze runde Steine werden den Parteien zugeordnet, hinzu kommt ein roter Stein, die »Queen«. Ziel des Spiels: so schnell wie möglich die eigenen Steine mit dem »Striker«, das ist der eigens dafür vorgesehene Schussstein, in eins der Ecklöcher auf dem 74 mal 74 Zentimeter großen Brett zu schießen.
Der Striker darf nur mit einem Finger geschnippt – und nicht geschoben! – werden. So lange ein Teilnehmer einen eigenen Stein nach dem anderen versenkt (auch wenn gleichzeitig eine Mini-Disc des Gegners eingelocht wird), darf er weitermachen. Zusatzpunkte in der Schlussabrechnung bringt ein Treffer der Königin. Das Board ist beendet, wenn eine Partei ihre Steine in die Löcher befördert hat und überdies die Queen von einem der Kontrahenten erfolgreich abgeräumt worden ist. gra
(Arif Naovi beginnt zu rezitieren): »Wie schön, wie lieblich ist Carrom! Die Steine laufen wie die Rehe im Wald, hüpfen wie die Vögel auf den Zweigen der Bäume, sind wie die Tänzerinnen im Palast. Und die Königin sitzt stolz in ihrem roten Kostüm, und alle wollen die Königin haben.«
Wunderbar! Aber halt, besagtes Spiel kennt auch eine »Queen«?!
Die ist der wertvollste Stein auf dem Brett, wird entsprechend rot markiert. Und für einen Treffer bekommen Sie Zusatzpunkte.
Verstanden. Außerdem haben Sie ein Theaterstück verfasst mit dem zentralen Motiv Carrom.
Das Stück begleitet und beobachtet Schiedsrichter während der Wechselfälle eines Turniers, wenn zum Beispiel über die Auslegung der Regeln gestritten wird.
Ende der 1960er Jahre sind Sie nach Berlin gekommen und haben an der Humboldt-Universität gelehrt. Ist das nicht etwas seltsam für einen seriösen Literatur- und Sprachwissenschaftler, sich derart intensiv mit einem primär doch bloß unterhaltenden Spiel wie Carrom zu beschäftigen?
Aber nein! Carrom ist ganz wunderbar, formt den Charakter und erzieht zu sozialem Verhalten. Carrom ist ein wichtiger Bestandteil unserer Kultur.
Steht dem aber nicht die Entstehungsgeschichte entgegen? Die britischen Kolonialherren in Indien vergnügten sich gerne beim Billard, eine Welt, die für die ausgebeutete einheimische Bevölkerung dort verschlossen blieb. Die erfand Carrom als preiswertes Volksbillard. Aber ist das nicht nur ein Reflex auf Kolonialismus und Imperialismus und weniger ein originäres Element der indischen Kultur?
Sie verkennen, dass es auf dem Subkontinent eine sehr lange Tradition gibt, mit Steinen zu spielen. Denken Sie an Pachisi, das zum Vorbild für das bekannte »Mensch ärgere Dich nicht« geworden ist. Nun ist gerade die Bewegung der Steine das zentrale Motiv im Pachisi, und mit derartigen Bildern im Kopf haben sich die Menschen daran gemacht, aus dem Billard der Engländer etwas Eigenes zu formen - sprich: Carrom.
Folglich ist Carrom die spielerische Antwort des Volkes auf die Realität der Kolonialherrschaft gewesen?
So kann man das sagen. Und in der Konsequenz wurde Carrom zwar in der Bevölkerung rasch populär, jedoch haben die einheimischen Eliten das Spiel zunächst ignoriert. Das hat sich allerdings nach der Unabhängigkeit 1947 geändert: Damals fing man an, Indiens Kulturerbe wiederzuentdecken, inklusive Carrom. Heute wird es auch an Schulen gefördert. Und gute Spieler können vom Spiel mittlerweile leben, weil sie, um ihre sportlichen Erfolge zu honorieren, attraktive Arbeitsplätze angeboten bekommen, von Airlines, der Zollverwaltung oder Versicherungen.
Ihre größten sportlichen Erfolge?
Dafür hätte ich intensiver trainieren müssen. Zumal mich meine Eltern gemahnt hatten, ich sollte - nachdem ich das Spiel in der Jugend gelernt hatte - mein Studium nicht zugunsten von Carrom vernachlässigen. Statt am Brett sehe ich meine Rolle in der Organisation, war langjähriger Präsident der International Carrom Federation und des deutschen Verbandes.
Ein Leben für Carrom. Und gleichzeitig schreiben Sie unermüdlich weiter, auch jenseits Ihres Lieblingsthemas Carrom. Gerade haben Sie einen Gedichtband publiziert, Titel »Dornen und Rosen«. Und ein Theaterstück aus Ihrer Feder, die »Trommel aus der Ferne«, reflektiert die Erfahrungen ausländischer Studenten in Deutschland. Wie schaffen Sie das alles mit 81?
Carrom bringt einem bei, sich zu konzentrieren und den täglichen Stress für die Dauer einer Partie auszuschalten. Und habe ich bis ein Uhr morgens am Computer gesessen und werde etwas müde, bewege ich ein paar Steine über das Brett. Das ist wie eine Meditation und macht mich wieder munter. Carrom hält jung! (lacht)
Infos: https://www.carrom.de; Website von Arif Naqvi: www.arif-naqvi.com
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