Die Stadt fährt Rennrad
Beim Velothon übernahmen die Radfahrer zum achten Mal die Herrschaft auf Berlins Straßen
Radfahren ist nicht an vielen Orten beliebter als in Berlin, dennoch gibt es nur wenige Tage, an denen die Radfahrer die Hauptstadt wirklich im Griff haben. Zum einen, wenn die weltweit größte Fahrraddemonstration, die Sternfahrt, ansteht und 250 000 Menschen über abgesperrte Straßen und Autobahnen radeln - in diesem Jahr am 14. Juni. Der andere große Fahrradfeiertag ist der Berliner Velothon, der an diesem Sonntag bei strahlendem Maiwetter zum achten Mal auf dem Programm stand.
Zwischen Start und Ziel an der Siegessäule führte er entweder über 60 oder 120 Kilometer in südliche und südwestliche Stadtteile. Rund um den Tiergarten herrschte dabei auch an diesem Sonntag wieder paradiesische Stille, die nur ab und an vom Surren der Rennräder und dem Klacken der Gangschaltungen unterbrochen wurde, manchmal auch vom fernen Hall des Rennsprechers, der Starter und Zuschauer an Start und Ziel bei Laune zu halten suchte.
Berlin atmete Ruhe: 11 000 Radler fuhren um die Wette während Berlin-Touristen auf abgesperrten Fahrbahnen lustige Selfies machten. Nur an den Absperrgittern und Flatterbändern herrschte von Zeit zu Zeit Unmut: Hier sammelten sich Sonntagsautofahrer und schimpften gestikulierend auf die Ordner ein.
In der Altonaer Straße, nur ein paar Meter vom Gripstheater entfernt, stand das türkisfarbene nd-Auto - Treffpunkt für die 62 Fahrer des nd-Teams und nd-Sportredakteur Oliver Kern, der schon das erste nd-Team beim Premieren-Velothon 2008 ins Leben gerufen hatte. Oliver Kern hält seither die Mannschaft zusammen, die mit jedem Jahr wächst, er verteilt Startbeutel und Zeitmess-Transponder und weist die Fahrer in die Besonderheiten des Rennens ein.
Als die ersten nd-Fahrer erschöpft und glücklich von den 60 Kilometren zurückkehrten, war der nd-Mann schon selbst auf der 120-km-Strecke unterwegs, die der 36-Jährige am Ende in ordentlichen 3:34:17 Stunden absolvierte. Wolfgang Groneberg war der erste, der zurückkam: Ein Taxifahrer aus Berlin, der als 74-Jähriger mit seinen 1:41:38 einen erstaunlichen 39,29 km/h-Schnitt hinlegte. »Ich war früher Renner beim TSC und der BSG Post«, räumte er ein, »und Radrennen fahren - das verlernt man nie.« Jeden Dienstag fährt er mit einer Trainingsgruppe mit dem ehemaligen Friedensfahrer Detlef Zabel eine 50 Kilometer-Runde. »Ich war überrascht, so weinige Stürze gesehen zu haben«, sagte Groneberg, der Zweitplatzierte seiner Altersklasse geworden war. Dann rief er seine Frau an, er sei heil im Ziel angelangt.
Ein paar Meter entfernt wartete derweil ein junger Mann mit wild verbogenen Vorderrad auf seine Freunde: Er habe ausweichen wollen, als vor ihm zwei Fahrer stürzten, erzählt er. »Die beiden standen auf fuhren wie die Wilden weiter, ich lass mich jetzt ins Krankenhaus fahren.« Dennoch, im nächsten Jahr wolle er wieder dabei sein, so wie die meisten der 11 000 Starter, die in diesem Jahr gute Bedingungen vorfanden: Sonniges, aber nicht zu heißes Wetter, ein bisschen viel Rückenwind.
In die Anonymität der radelnden Massen konnte sich an diesem frühlingshaften Berliner Vormittag selbst Politprominenz frei bewegen. Wer genau hinschaute, konnte im Zielbereich Bundesjustizminister Heiko Maas entdecken, frisch geduscht in quietschbunten Joggingschuhen. »Ich bin Triathlet und habe hier für einen Wettkampf geübt«, verriet der SPD-Mann. Ob seine Wachschützer auch mit auf die 60 Kilometer mussten? »Nein, ich setze Sonnenbrille und Helm auf, dann bin ich einer von vielen.« Mit 2:02:39 h steht der 48-Jährige nun in den Ergebnislisten. Beim Radfahren sind am Ende alle gleich.
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