Hartnäckige Lobbyisten für Distomo
Arbeitskreis erinnert 74 Jahre nach SS-Massaker in dem griechischen Dorf an ungetilgte Entschädigunsansprüche
Vor anderthalb Jahrzehnten hätte Martin Klingner noch nicht geahnt, dass er fortan regelmäßig in politischer Mission nach Griechenland reisen würde. Der »Arbeitskreis Distomo« sei ursprünglich nicht als dauerhafte Einrichtung geplant gewesen. An diesem Mittwoch aber reist der Hamburger Anwalt mit dem Arbeitskreis erneut nach Distomo, zur zentralen Gedenkveranstaltung in der 4000 Einwohner zählenden Kleinstadt. Am 10. Juni 1941 brannte eine SS-Division Distomo nieder und brachte dabei 218 Zivilisten um - offiziell eine Vergeltungsmaßnahme für die Erschießung dreier deutscher Soldaten durch Partisanen.
Klingner reist jedes Jahr nach Distomo, wenn es irgendwie möglich ist. »Wir sind da auch ein bisschen in der Pflicht«, sagt er. »Die Leute nehmen uns total herzlich auf; allein, dass wir da sind, ist für sie eine Anerkennung.« Über eine Woche lang wird des Ereignisses gedacht, auf sehr verschiedene Weise, wie Klingner erzählt. Einen Demonstrationszug zur deutschen Botschaft, eine Kundgebung vor der Akropolis sowie Diskussionsveranstaltungen in Athen und Distomo gab es bereits. Der Arbeitskreis, der sich in Deutschland seit gut 15 Jahren für die Opfer und ihre Angehörigen einsetzt, war dabei.
In seinem Alltag sitzt Klingner in der Kanzlei »B 49« auf St. Pauli, ein 1981 gegründetes linkes Anwaltskollektiv. An einer Längswand hängt ein Gemälde seiner Freundin, gegenüber eine Kinderzeichnung, auf der ein Strichmännchen-Messi den Ball gerade zum »5:0« in den Winkel schießt. In den Regalen häufen sich Aktenordner, viele davon mit »Distomo« beschriftet. Es geht nicht nur um Erinnerung, es geht auch um Entschädigung. »Für mich lautet die Frage: Wie glaubhaft ist das Bekenntnis der Bundesrepublik zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus?«, erklärt der politisch engagierte Anwalt. Und: »Das bemisst sich ganz konkret daran, wie mit den Opfern und wie mit den Tätern umgegangen wird.«
Nach den geltenden Prinzipien des Völkerrechts können nur Staaten für Kriegsverbrechen entschädigt werden, keine einzelnen Personen. Aus Sicht der Bundesregierung sind diese Entschädigungen bereits geleistet. Griechische Urteile zugunsten der Opfer blieben lange folgenlos. 2008 entschied das Römische Kassationsgericht allerdings, dass Urteile aus Griechenland auch in Italien vollstreckt werden könnten - was bislang unter anderem wegen des mangelnden Engagements der griechischen Regierungen nicht geschehen ist. Eine Beschlagnahmung deutschen Vermögens in Griechenland wird von der amtierenden Linksregierung zumindest in Erwägung gezogen.
Der AK Distomo ist keine gewaltige, aber eine hartnäckige Lobbyorganisation. Er umfasst etwa zehn Personen, die längst zu Experten in internationalem Entschädigungsrecht geworden sind. »Wir haben uns viel mit NS-Themen, speziell mit Zwangsarbeit beschäftigt«, so Klingner. »Nach der Entscheidung des höchsten griechischen Gerichts im Jahr 2000, den Opfern von Distomo 28 Millionen Euro zuzusprechen, haben wir Jannis Stamoulis nach Hamburg eingeladen, der 1995 die Klage erhoben hat. Das war der große Startschuss, darüber haben sich viele politische und persönliche Kontakte gebildet.«
Klingner wurde 1962 in Kiel geboren, sein Studium führte ihn nach Hamburg. »Jura bedeutet die Chance, sich individuell für Gerechtigkeit einzusetzen, das Ganze aber auch in einen politischen Kontext zu stellen«, begründet der Fachmann für Miet- und Arbeitsrecht seine Wahl. Eine familiäre Vorprägung kam dazu: Sein Vater Klaus war Richter, ab 1971 SPD-Landtagsabgeordneter und von 1988 bis 1996 Justizminister in Schleswig-Holstein. »Ich habe ihn immer eher als Politiker erlebt, weniger als Juristen«, erzählt der Sohn: »Mich mit politischen Fragen auseinanderzusetzen, war daher eine Selbstverständlichkeit.«
Durch das Fenster seines Büros kann man das nahe gelegene Millerntor-Stadion zwar nicht sehen, aber hören, wenn der FC St. Pauli dort seine Zweitliga-Spiele bestreitet. Klingner hat seit Jahren eine Dauerkarte und zitterte im Abstiegskampf der Kiezkicker mit. Drei Siege am Stück verhalfen seinem Lieblingsklub schließlich zum Klassenerhalt. Eine Erfolgsserie, die der griechische Regierungschef Alexis Tsipras in seinen Verhandlungen mit der EU noch nicht aufweisen kann.
»Seit 20 Jahren streiten die Menschen vor Gerichten, aber Gerechtigkeit gibt es bis heute nicht.« Klingner zeigt sich auch von Präsident Alexis Tsipras »ein bisschen enttäuscht«. »Das ist kein Punkt, den man in Verhandlungen preisgeben darf.« Weit enttäuschter ist er freilich von Angela Merkel. »In der deutschen Öffentlichkeit hat sich mittlerweile einiges bewegt, aber von Regierungsseite nichts.« Die Bundeskanzlerin sollte »auf ihrer berühmten Augenhöhe« zu einer Verhandlungslösung kommen, fordert Klingner. Auf einer Pressekonferenz am Mittwoch will er diese Forderung auch öffentlich machen.
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