Luftholen für die Spiele
Der Beginn der Europaspiele verschafft dem boomenden Baku eine Atempause
Die Spiele beginnen: Im Mountainbike, Karate, Triathlon und Ringen werden am Sonnabend die ersten Goldmedaillengewinner der Premieren-Europaspiele gekürt. Ein sporthistorischer Moment - in den vergangenen fünf Jahrzehnten gab es keine vergleichbare Neueinführung im internationalen Sportkalender. Noch vor der olympiareifen Eröffnungsfeier am Freitagabend im Olympiastadion vor 68 000 Zuschauern stiegen vormittags als Erste die Synchronschwimmerinnen in die Wettbewerb ein. Sie gingen vormittags ins Wasser des direkt am Kaspischen Meer gelegenen Aquatic Center, um erste Qualifikationswettkämpfe auszutragen.
Die österreichische Synchronschwimmerin Vanessa Sahinovic, die einen Tag zuvor bei einem Unfall schwer verletzt worden war, ist derweil nach ihrer Rückkehr nach Wien in ein künstliches Koma versetzt worden. Laut der Wiener Tageszeitung Kurier drohen Folgeschäden bis hin zu einer Querschnittslähmung. Sahinovic war mit zwei Teamkolleginnen im Athletendorf von einem Shuttle-Bus angefahren worden. Unter dem Motto »Schwimmen für Vanessa« traten am Freitagmorgen Sahinovics Mannschaftskameradinnen Anna-Maria und Eirini-Marina Alexandri zu ihrem Wettkampf an.
Tischtennis-Europameister Dimitrij Owtscharow (Hameln) würde seine Rolle als Botschafter der Europaspiele in Baku angesichts der Menschenrechtslage im Gastgeberland aus heutiger Sicht überdenken. »Es ist wie im Tischtennisspiel: Manchmal würde ich vielleicht ein, zwei Züge im Nachhinein anders machen«, sagte der Olympiadritte am Eröffnungstag. Der 26-Jährige sagte aber auch, dass sich in den vergangenen Jahren in Aserbaidshan »viel getan« habe. Für ihn selbst stehe angesichts des dichten Spielplans in Baku »der Sport klar im Vordergrund«.
Beim ersten Wettkampf mit deutscher Beteiligung in Baku haben die Wasserballerinnen eine erwartet klare Niederlage kassiert. Die Juniorinnen unterlagen am Freitag wenige Stunde vor der Eröffnung Ungarn mit 4:21.
Bei den Ringern geht es an diesem Samstag um die ersten Medaillen - und das vor besonderer Kulisse: Aserbaidshan ist die Wiege der Sportart, die Jahreshöhepunkte auf den Matten sind Zuschauermagneten und werden von großem Medienrummel begleitet. So wird die Alijew-Arena beben, vor allem, wenn einheimische Ringer antreten. Zuletzt fanden 2007 Weltmeisterschaften sowie 2010 Europameisterschaften und die Finalkämpfe um den »Golden Grand Prix« in Aserbaidshan statt. Für die deutschen Teams sind die Europaspiele in Baku zwar ein sportlicher Gradmesser, letztlich aber nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur WM in Las Vegas im September, bei der um die ersten Olympiatickets gekämpft wird.
Lenka Dürr hat in den vergangenen beiden Jahren ihre sportliche Heimat in Baku gefunden. Vor dem Auftakt der deutschen Volleyballerinnen am Samstag gegen Bulgarien ist der Libero gefragte Gesprächspartnerin. Auch was brisante Themen wie Menschenrechte betrifft. »Es erschüttert einen, wenn man so etwas hört. Man wünscht es sich anders«, sagte Dürr. Allerdings lebe man als Sportprofi im »eigenen Mikrokosmos« und bekomme »nicht wirklich« etwas mit. 2013 hatte Dürr Vilsbiburg verlassen. »Baku hat die finanziellen Mittel. Das macht es für internationale Volleyballspielerinnen sehr interessant«, erläuterte die 24-Jährige den Wechsel.
Die Veranstalter nennen die Spiele stets die »inaugural games«, die Eröffnungsspiele. Schon dieser erste Qualifikationswettbewerb im Synchronschwimmen eröffnete Aserbaidshan etwas Neues: Das Aquatic Centre mit seinen 2000 Zuschauerplätzen ist die erste Wettkampfschwimmhalle des Landes, was manchem Zuschauer vielleicht die Tatsache erträglicher macht, dass in den 14 Wettkampftagen nur Europas bester Nachwuchs im Schwimmen, Wasserspringen und Synchronschwimmen antreten wird. In Aserbaidshan, das mit Spitzensportveranstaltungen wie der Formel 1 (ab 2016) oder der Fußball-EM (vier Spiele der EURO 2020) sich international weiter präsentieren will, wird es künftig auch Leistungsschwimmerinnen und Wasserspringer aus Aserbaidshan geben.
Im Stadtbild der boomenden Millionenmetropole sind die Spiele in diesen Tagen allgegenwärtig - kein Bus ohne Baku2015-Logo, kein Bauzaun an den schnurgeraden sechsspurigen Magistralen, der nicht mit lilafarbenen Tüchern verkleidet wäre, auf denen Granatäpfel sprießen und Antilopen springen. Hinter den Bauzäunen herrscht ungewohnte Ruhe. »An vielen Baustellen ist die Arbeit wegen der Spiele eingestellt worden«, erzählt ein Einheimischer, »die Luft ist in diesen Tagen der Spiele viel besser als sonst.« Stattdessen fährt die U-Bahn durchgängig bis weit nach Mitternacht, wie »Baku Metro« mitteilte.
Das boomende Baku atmet durch. Es gibt eigentlich nur wenige Orte auf der Welt, an denen derzeit so viel gebaut wird wie in der Millionenstadt am Kaspischen Meer. Dass die Bauarbeiten nun kurz unterbrochen sind, sorgt vor allem bei den Bauarbeitern für Verdruss - in den kommenden zwei Wochen verdienen viele Männer nichts. Der chronische Bakuer Stau wurde für die Spiele ebenfalls verringert: Nur Einheimische dürfen in diesen Tagen mit dem Auto in die Stadt hinein, Pendler müssen auf Busse und Metro ausweichen, was die Lage auf den Straßen so entspannt wie selten macht.
Auch die Athletinnen und Athleten konnten das Bemühen der Stadt um feinere Luft bemerken. Die riesige schwarz-rauchende Flamme jener Raffinerie, deren Schein nachts bis in die Schlafzimmer der Hochhäuser im Athletendorf fiel, ist seit Donnerstag erloschen. Im Dorf genießen die Sportler eine Olympia-ähnliche Atmosphäre, sie sehen die Spiele als Einstimmung auf die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro 2016. Viele schwärmen von den Wohnungen. »Natürlich wollen wir uns nicht mit Olympia vergleichen, aber einige Leute haben mir bereits gesagt, dass das Dorf in Baku alles übertrifft«, sagt Patrick Hickey, Präsident des EOC.
Vor allem lieben die Sportler die Spiele-Taxis, jene typischen Londoner Cabs, die in Baku allerdings weiß lackiert sind. Hunderte davon gibt es, Sportler und Funktionäre können sie jederzeit benutzen. Die unzähligen Bakuer, die jeden Abend an der Uferpromenade Bulvar flanieren, beobachten mit Neugier und Begeisterung, wie spanische Volleyballer, russische Ringer oder polnische Karateka aus den Taxis am Neftçiler prospekti steigen, um dann mit stolzgeschwellter Brust ihre Teamkleidung vorzuführen.
Dass die Stimmung in Sachen Spiele wegen der anhaltenden Kritik an Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit immer noch angespannt ist, war am Donnerstagabend nahe des Bulvar auch zu beobachten. Vor der britischen Botschaft in der Xhagani-Straße protestierten junge Aserbaidshaner: »England, gib die doppelten Standards auf!« Und: »Was hat Platform mit Menschenrechten zu tun?« Einer Mitarbeiterin der Organisation Platform war am Mittwoch die Einreise verweigert worden. Die aserbaidshanische Regierung vermutet hinter den kritischen Berichten eine gezielte Kampagne, die vor allem von britischen Medien und NGOs angetrieben wird.
Derweil meldete sich in einem Brief an die New York Times die inhaftierte Journalistin Khadija Ismayilova zu Wort: »Heute sage ich der internationalen Gemeinschaft: Lasst die Regierung von Aserbaidshan nicht eure Aufmerksamkeit von ihrer Bilanz aus Korruption und Missbrauch ablenken! Die Besten und Intelligentesten Aserbaidshans wurden weggesperrt für die Europaspiele. Sie wollen nicht, dass ihr uns seht und unsere unbequemen Wahrheiten hört.«
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