Das Märchen von »Philae«

Warum der Roboter einen Dornröschenschlaf brauchte

  • Celestine Hassenfratz
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Roboter »Philae« sollte nach langer Reise eigentlich einen fernen Kometen im Weltraum erforschen, doch dann fiel »Philae« in einen märchenhaften Schlaf. Endlich wurde er wieder wachgeküsst.

Zehn Jahre lang war sie unterwegs gewesen, vorbei an Mars und Milchstraße, hatte den Asteroiden Lutetia passiert, das Ziel, den fernen Kometen »Tschuri« immer im Blick. Europas Weltraumorganisation (ESA) hatte im März 2004 die Weltraumsonde »Rosetta« auf eine ehrgeizige Mission geschickt. Mit dem Lander »Philae« an Board, wollten die Wissenschaftler das Sonnensystem erforschen und eine der wichtigsten Fragen der Entstehung des Lebens klären: Die Herkunft des irdischen Wassers. Ausgerüstet mit neun Messinstrumenten, um den Kometen auf seine chemische Zusammensetzung zu untersuchen und einer Panoramakamera, sollte sich der Lander von der Sonde abkoppeln und mit Hilfe von Harpunen und Eishaken auf »Tschuri« Fuß fassen.

Als die Landung am 12. November 2014 auf dem Kometen glückte, war der Jubel in den Kontrollräumen der ESA in Darmstadt zunächst groß. Hunderte Wissenschaftler hatten jahrelang auf diesen Moment hingearbeitet, 17 beteiligte Nationen etwa eine Milliarde Euro investiert, allein rund 290 Millionen Euro kamen aus Deutschland. Doch das Märchen von Roboterprinzessin »Philae« und ihrem unbekannten Kometen, der zum Zeitpunkt der Landung etwa 510 Millionen Kilometer von der Erde entfernt umherflog, schien vorerst keine klassische Liebesgeschichte zu werden.

Genau zwei Tage, sieben Stunden und 56 Minuten, nachdem »Philae« und »Tschuri« sich das erste Mal begegnet waren, fiel die Roboterdame in einen tiefen Schlaf. Bevor »Philae« in den Standby-Betrieb überging, konnte sie noch alle bis dahin gesammelten Daten an die Erde übermitteln, 80 Prozent des wissenschaftlichen Ziels waren somit erreicht. Wenige Tage später präsentierte die ESA stolz erste Ergebnisse: »Tschuri« sei sehr hart und bestehe vermutlich aus Wassereis, das von einer etwa zehn bis zwanzig Zentimeter dicken Staubschicht bedeckt ist. Von alldem bekam »Philae« allerdings schon nichts mehr mit. Wie bereits Dornröschen in Grimms Märchen schlummerte sie tief.

Schlaf kann bewahren, er kann erquicken und er ist notwendig, doch warum genau schlafen wir Menschen überhaupt? Grimms hundert Jahre langer Dornröschenschlaf wird von Märchenforschern und dem amerikanischen Psychoanalytiker Bruno Bettelheim als typisches Adoleszenz-Phänomen beschrieben. »Bei größeren Veränderungen im Leben wie dem Erwachsenwerden sind für eine erfolgreiche Entwicklung sowohl aktive wie auch geruhsame Perioden nötig. Zu einem Sich-nach-innen-Kehren, das nach außen wie Passivität (oder Verschlafenheit) wirkt, kommt es dann, wenn sich in dem Betreffenden innere Prozesse von solcher Wichtigkeit abspielen, dass er keine Energie mehr für nach außen gerichtete Aktivitäten aufbringt«, schrieb Bettelheim 1980. Der Schlaf also im übertragenen Sinn für ein verschlafenes Auftreten nach außen, da sich die eigentliche Entwicklung währenddessen im Innern vollzieht. Es gab also doch noch Hoffnung für »Philae«.

Doch was genau tat sie da nun? War sie für einige Zeit in sich gekehrt, um ihre Messergebnisse zu interpretieren und sich einfach mal in Ruhe die Panoramafotos von »Tschuri« anzuschauen? Eine mögliche Erklärung. Oder litt »Philae« doch am Kleine-Levin-Syndrom, eine Erkrankung mit periodisch erhöhtem Schlafbedürfnis? War »Philae« auf der zehnjährigen Reise plötzlich daran erkrankt? Jene Schlafsucht, bei der Betroffene in den Hochphasen nur ein bis zwei Stunden täglich wach sind, ist eigentlich sehr selten. Nur ein Mensch von 1 000 000 erkrankt daran. Und nun sollte es gleich den ersten Kometenroboter erwischt haben. Die Ursache musste woanders liegen. Wirklich wichtig war sie auch nicht, sondern die Frage, wie Philae wieder geweckt werden konnte.

Was also passiert, wenn wir Menschen aufwachen? Langsam die Augen öffnen, uns strecken, mit neuer Energie in den Tag starten, wie Dornröschen nach 100 Jahren vom Prinzen wach geküsst werden. Es ist eine »innere Uhr«, die uns wieder erwachen lässt, vor allem aber fungieren Licht und Geräusche als Zeitgeber für das Aufwachen. Geht die Sonne auf, öffnen auch wir wieder die Augen.

Genau hier liegt auch die Erklärung für »Philaes« Erwachen am vergangenen Samstag: Da »Philae« an einer so schattigen Stelle auf »Tschuri« gelandet war, an der sie ihre Betriebsspannung nicht mehr mit genügend Solarenergie aufrecht erhalten konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu schlafen und alle Instrumente abzuschalten.

Nun, da der Komet der Sonne aber immer näher kommt, konnten die Wissenschaftler der ESA diese Woche erneut jubeln. Nach sieben Monaten Winterschlaf war »Philae« wieder erwacht. Zwar dauerte der Kontakt nur 85 Sekunden, das reichte jedoch, um den Wissenschaftlern mitzuteilen, dass »Philae« friert. Bei minus 35 Grad harrt der Roboter nun weiter auf »Tschuri« aus. Die Wissenschaftler wollen die Raumsonde »Rosetta« nun neu ausrichten, um besser mit »Philae« reden zu können. Wer weiß, was sie nach ihrem Dornröschenschlaf alles berichten wird. Vielleicht gibt es dann doch noch ein Happy End im Märchen von »Philae« und »Tschuri«.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.