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Die Vermessung der Unendlichkeit
Lea Singer lässt in »Anatomie der Wolken« Goethe mit Caspar David Friedrich zusammentreffen
Warum haben wir immer wieder so viel Vergnügen an satirischen Texten über Goethe? Vielleicht gerade deshalb, weil das Genie einfach nicht von seinem Sockel zu holen ist. Dazu kommt die hübsche Mischung aus Bekanntem (»natürlich, diese skandalöse Weimarer Brillen-Episode zwischen Bettina und Christiane!«) und Noch-Nicht-Gewusstem. Augenzwinkernd treffen sich Autoren und Leser zu heiterem Bildungsvergnügen.
Lea Singer hat einen Roman über die Begegnung gleich zweier Genies geschrieben: des Dichterfürsten Goethe mit dem romantischen Maler Caspar David Friedrich. Von den hier geschilderten mehrmaligen Begegnungen der beiden ist anzunehmen, dass sie real so nie stattgefunden haben - dass sie das also illustrieren, was der Roman vor allem meint: die Begegnung zweier Welt- und Kunstauffassungen im Übergang von der Klassik zur Romantik mit allen historischen und künstlerischen Umbrüchen und Missverständnissen. Nicht zufällig geistert Napoleon mit seinen geschlagenen Truppen durch den Roman. Der geistige Gefechtsort ist nur ein winziges Territorium zwischen Weimar, Jena und Dresden mit gelegentlichen Ausflügen nach Karlsbad und Frankfurt (Main) zu Marianne Willemer, ins Elbsandsteingebirge (Goethe) oder ins schroffe Riesengebirge (Friedrich).
Unterschiedlicher können die beiden kaum sein: der alternde, eitle Goethe, dem alle Welt zu Füßen liegt, und Friedrich, Seifensiedersohn aus Greifswald, ungeschickt im Umgang mit Sprache und noch mehr mit Frauen Friedrich lebt bescheiden in seiner kargen Atelierwohnung in der Pirnaer Vorstadt in Dresden. Aber es gibt Verbindendes. Da ist vor allem die junge Witwe und Porträtmalerin Louise Seidler, die beide bewundert und einige Versuche unternimmt, Goethe für die Bilder Friedrichs zu gewinnen. Und beide beschäftigen sich mit den Wolken. Friedrich hat ein Bild zu Goethes Gedicht »Klagelied eines Schäfers« gemalt, dessen Wolkengebilde dem Dichter sehr befremdlich erscheinen. Louise arrangiert ein Treffen in Friedrichs Atelier. Dort stehen zwei weitere, für Goethe noch schrecklichere Bilder: »Mönch am Meer«, eine »Landschaft mit Luft darüber ... fünf Sechstel Himmel«, und »Klosterruine im Schnee« - trostlos in seiner Sicht auf die Welt. Der Maler der Wolkenungetüme erscheint dem Dichter als Träumer wie Brentano oder Arnim, ein Wolkengucker oder Wolkenglotzer. Diese ganze Formlosigkeit muss zum schlimmen Ende führen wie bei Kleist.
Goethe, der große Former und Gestalter, hatte gerade die Wolkenforschung für sich entdeckt. Der Wettermessung gehört die Zukunft. Im Weimarer Land hat er Wetterstationen einrichten lassen. Während er sich eingestehen muss, dass sein Körper vom guten Wein formlos wird, verjüngt ihn noch einmal die Liebe, die er mit Mariannes Hilfe in die Verse des »Westöstlichen Divan«. gießt. Dann gilt es Abschied zu nehmen von »orientalischen Versuchungen«.
So bleibt schließlich die Frage, wer die besseren Wetterprognosen für die Zukunft stellt, wer die Unendlichkeit hinter den Wolken und Nebelschwaden ermessen kann.
Lea Singer: Anatomie der Wolken. Roman. Hoffmann und Campe. 255 S., geb., 20 €.
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