Rückfall in die Sowjetzeit der 30er Jahre
Gegen den Regierungskurs aufbegehrende Journalisten werden in der Ukraine als »Kremlagenten« denunziert
Auf 340 Millionen Klicks und fast 500 000 Abonnenten kommt der ukrainische Journalist Anatolij Scharij mit seinem Blog. Dort deckt er Tag für Tag Lügen der neuen Macht in Kiew und der staatlich kontrollierten Medien auf. Einen Namen machte sich der 36-Jährige in den Jahren 2008 bis 2011 mit Recherchen über das organisierte Verbrechen in der Ukraine. Seit 2012 wohnt Scharij als politischer Flüchtling in der EU.
»Die Situation hat sich eindeutig zu Ungunsten der Presse- und Meinungsfreiheit verändert«, urteilt er im »nd«-Gespräch. »Sogar der Berater des Innenministers Anton Geraschtschenko verspricht ganz offen, mich der Finanzierung des Terrorismus zu beschuldigen, weil ich mich einmische.« Ein Andersdenkender in der Ukraine müsse heute so tun, als stimme er allem zu. »Sonst wird er als ein Kremlagent beschimpft, verhaftet oder auch ermordet.« Als Beispiel nennt Scharij seinen regierungskritischen Kollegen Oles Buzina, auf den Mitte April ein tödliches Attentat verübt wurde, und kann nicht verstehen, dass europäische Bürgerrechtsorganisationen darüber schweigen.
Als neue Tendenzen in der Medienlandschaft der Ukraine macht er das aus: »Jeden Tag fangen sie Spione und Diversanten.« Außer in Litauen habe er nirgends in der EU eine derart inkompetente Presse erlebt. »Sie beschuldigt dich, gibt dir aber nicht das Wort, um dich zu verteidigen.« Alle ukrainischen Medien sollen sich an den »Einheitskurs der Partei« halten. Zuvor recht unvoreingenommene Fernsehkanäle müssten neue Spielregeln annehmen. In die Studios würden »Experten« eingeladen, deren Reden die hasserfüllte Atmosphäre in der Gesellschaft nähren. Das sei sogar rechtswidrig, denn es gehe um Aufrufe zum Mord und die Einteilung der Bevölkerung je nach Region in verschiedene Klassen. »Damit wird die Intoleranz verstärkt.«
»Täglich wiederholt werden sollen solche bizarren Lügen, dass die Separatisten die Städte, die sie kontrollieren, selbst beschießen, oder die Ukraine schon morgen in die EU eintritt«, berichtet Anatolij Scharij. Trete aber jemand dafür ein, dass der Krieg gestoppt werden müsse, könne nicht nur er, sondern auch der Kanal Probleme bekommen - bis zum Entzug der Sendelizenz. Nur die Shows, in denen alle Redner erzählten, wie gut alles in der Ukraine sei und dass morgen alles noch besser werde, dürften existieren. »Das sind keine Massenmedien mehr, sondern Mittel der Massenpropaganda. Keine Kritik an der Regierung. Keine Kritik an der Militarisierung der Gesellschaft. Nur ein Kurs! Nur eine Parteilinie! Wie es in den 30er Jahren in der UdSSR bei der ›Prawda‹ war«, meint Scharij.
Zudem verweist der Journalist auf eine wiederbelebtes Merkmal jener Zeit: »Die Denunziation wird zur beliebtesten Waffe der Konkurrenz in der Ukraine.« Jene Leute, die unter Präsident Viktor Janukowitsch für die Pressefreiheit kämpften, »bekamen das Monopol auf die Wahrheit und verteidigen es wütend«. Dutzende Journalisten aber, die gegen Bürgerkrieg und Mobilmachung auftreten, sitzen im Gefängnis.
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