»Was bin ich in diesem Augenblick?«

Linde Salber: »Herzmusterstrickjacke« ist ein Puzzle aus Erinnerungsepisoden

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Man konnte ihren Namen schon früher kennen, denn Linde Salber hat neben Bänden zur Psychologie auch Bücher über Freud und die Frauen, über Marlene Dietrich, Salvador Dali, Frida Kahlo, Anais Nin und andere Künstler geschrieben. Inzwischen ist sie die Biografin von Hermann Kant. Den kann man bei aufmerksamem Lesen auch in diesem ersten, die Autoren selbst betreffenden Buch wiederfinden, wenn man weiß, dass sie ihm bei einer Lesung in Schwerin erstmals begegnete, dass er in Prälank wohnt, die Erzählung »Krönungstag« geschrieben hat … Es sind immer nur winzige Andeutungen, mal auch ein Zitat, erst gegen Schluss kommt die Episode, wie sie in einer Rehaklinik zufällig Kants »Aufenthalt« aus dem Regal zog und sich festlas. Moment, müsste das nicht am Anfang stehen?

»Alles ein bißchen falsch, und alles genau so« - nicht von ungefähr steht dieses Zitat von Seite 180 auf dem Buchdeckel. Es ist ein autobiografisches Buch mit Verfremdungen und Erfindungen. Chronologisch gehorcht es einer eigenen Logik. Linde Salber heißt hier Birke Below und verlangt dem Leser einiges ab, ihr hierhin und dahin zu folgen. »Wie mein Geist mäandert, so auch mein Stil«, zitiert sie an einer Stelle Michel de Montaigne. Stimmt: Beim Lesen fühlt man sich in einem Puzzle aus Erinnerungsepisoden - herausgefordert, es selber zusammenzusetzen.

Das Mädchen mit der Herzmusterstrickjacke auf dem Buchumschlag könnte der sowjetische Kommandant mit seiner Leica aufgenommen haben - in jenem Mecklenburgischen Dorf, wo Birke Seidel aufwuchs. Dieser Kommandant muss einen Platz in ihrem Herzen eingenommen haben, denn die vier Kinder waren ohne Vater. Ihr späterer Mann heißt Viktor Below, Journalist, wohingegen die Autorin mit dem Psychologen und Philosophen Prof. Wilhelm Salber aus Köln verheiratet ist. Sie hat sich also beim Schreiben mit einer Kunstfigur konfrontiert - ein bisschen sie selber, aber eben nicht ganz.

»Bin das denn ich, was da geschrieben steht … Was bin ich in diesem Augenblick?« Und überhaupt, wie soll man sein Leben betrachten, wenn man knapp über siebzig ist, doch überhaupt nicht in ein Rentnerklischee passt? Womöglich ist das der rote Faden, der sich durch das Buch zieht. Selbstbefragung, Selbsterkundung - Selbstfindung am Ende vielleicht. Die Unrast des Erlebens und Erzählens wäre in diesem Zusammenhang zu sehen - als Aufbegehren gegen Festgefügtes, wie man es gemeinhin mit dem Alter in Zusammenhang bringt. Gegen die »Käfiggefühle« ist jede Herausforderung recht, »jedes Angebot, das neue Wirbel verspricht«.

Konfliktpotenzial einer Lebensphase: »Ich bin so berechenbar geworden. Bevor ich auch noch langweilig werde … Ich bin doch noch nicht zuende gelebt. Vielleicht steckt noch etwas in mir, das bisher nicht rauskonnte, das wir beide nicht kennen«, sagt Birke zu Viktor, bevor sie zu einer Freundin in die USA reist. Aber dort wird sie keinen festen Boden für sich finden. Was ihr dann wirklich gut tut, so viel sei verraten, ist eine Reise zu den Kindheitswurzeln, eben zu jenem Mädchen mit der Herzmusterstrickjacke.

Doch noch liegt auf dem »Brunnen mit dem Spiegelbild des Kindes in der Tiefe« eine schwere Steinplatte. Schöne Sätze finden sich im Buch, wenn Ruhe einzieht für Momente. Es braucht eben Mut, von der inneren Eile abzulassen, die allzu lange ein Halt gewesen ist.

»Aber du kannst nicht zweimal in den selben Fluss gehen«, bekommt Birke Below zu hören, als sie sich für ein altes Haus in ihrer Kindheitslandschaft begeistert. Doch gerade dort beginnt ein neuer Erfahrungsweg.

Linde Salber: Herzmusterstrickjacke. Unverzagt Verlag. 220 S., geb., 19,90 €.

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