Wer bestimmt, wer Antisemit ist?

Wolfgang Gehrcke über die Antisemitismus-Vorwürfe gegen Linke

  • Uli Gellermann
  • Lesedauer: 4 Min.

Es war die deutsche Linke, so erinnert sich Wolfgang Gehrcke in seinem neuen Buch über »Die Antisemitismus-Kampagne gegen Links«, die historisch mit den Begriff »verjudet« gebrandmarkt wurde. Das Wort vom »jüdischen Bolschewismus« war lange virulent, wurde dann aber im westlichen Nachkriegsdeutschland aus Rücksicht gegenüber dem Bündnispartner Israel eingemottet. Bis es in den 1980ern durch den Historiker Ernst Nolte wiederbelebt wurde. Was aus der heutigen, umgedrehten Vorwurfslage vollständig ausgeblendet wird, ist die Tatsache der Nazi-Rettungs-Aktion in der jungen Bundesrepublik, die den praktizierenden, den mörderischen Antisemiten das soziale Überleben in der Justiz, in den Geheimdiensten und der Politik ermöglichten. Der Nazi-Kanzler Kiesinger und der Nazi-Bundespräsident Carstens verschwinden hinter dem schmutzigen Vorwurf gegen die Linke fast völlig.

Das ist das Bequeme am Antisemitismus-Vorwurf: Er muss nicht belegt, nicht argumentiert werden. Auch die Kritik am Staat Israel ist in der deutschen Öffentlichkeit durchweg als Antisemitismus eingeordnet. Beweise für den Vorwurf? Die braucht der gewöhnliche Redakteur, der übliche Politiker nicht, es reicht aus, das Wort Antisemit zu benutzen und der so stigmatisierte ist erledigt. Das weist der Autor gründlich nach, wenn er sorgsam die Vorwürfe mit den Fakten vergleicht und unter den vielen Anwürfen auch jenen gegen Oskar Lafontaine findet, dem von Dieter Graumann - einem Funktionär des Zentralrats der Juden - »krankhafte« Feindseligkeit gegen Israel vorgeworfen wurde. Dass Graumann mit dem Wort »krankhaft« die Sprache der Nazis benutzte, fiel der allgemeinen Öffentlichkeit nicht auf.

Als den wohl berühmtesten jüngeren Antisemitismus zitiert Gehrcke den »Fall« Günter Grass. Der Schriftsteller warnte vor dem atomaren Erstschlag der Regierung Netanjahu gegen Iran und stand dafür tagelang auf der Antisemitismus-Bestseller-Liste des kompletten Medienmainstreams. Auch weniger Prominente gerieten auf diese Liste. Zum Beispiel Jakob Augstein, der zum lupenreinen Antisemit gemacht wurde, weil er Günter Grass verteidigt hatte. Und auch Gehrcke selbst, der von Christian Bommarius in der »Berliner Zeitung« als »Gesinnungsgenosse« des »rechten Mob« abgestempelt wurde, weil er mit Ken Jebsen einen Aufruf der Friedensbewegung unterzeichnet hatte und der sei nun mal, so hieß es unisono, ein Antisemit.

Obwohl eine Studie von Werner Bergmann vom renommierten Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung feststellt, dass Judenhass oder Ressentiments gegen Juden bei Linken nur unterdurchschnittlich anzutreffen sind, wird gemeinhin das Gegenteil suggeriert. Ein Beispiel dafür ist Volker Beck von den Grünen. Er zog aus der Tatsache, dass ein Halstuch, das Inge Höger von der Linksfraktion des Bundestages auf einer Palästina-Konferenz trug und das den Nahen Osten ohne die Grenzen Israels zeigte, den Schluss: »Israel ist dort (auf dem Halstuch, d.Red.) bereits verschwunden!« Dass man eben dieses Tuch überall in Israel kaufen kann und die Grenzen dort ebenso fehlen, weil der Staat Israel seine Grenzen nun mal nicht festlegen will - was soll’s? Kaum hatte die Becksche Behauptung die Öffentlichkeit erreicht, wurde sie zur anerkannten Wahrheit: Wer Antisemit ist, bestimmt der Mainstream. Längst hat der bequeme Antisemitismusvorwurf gegen die Linken leider auch die Linkspartei erreicht. So unterstellte der Berliner Landesvorsitzende Klaus Lederer jüngst zwei Unterzeichnern der Aktion »Friedenswinter« eine Nähe zu Neonazis. Das belegte er mit zwei entstellten Zitaten. Und liefert so eine Vorlage für jene Medien, die ganz sicher nicht mit der Linkspartei befreundet sind.

Eine besonders anrührende Stelle findet sich in Gehrckes Buch, wenn er über die emotionale Auswirkung der Antisemitismus-Beschuldigung berichtet: »Sie macht hilflos und drängt dazu, sich zu verteidigen, zu rechtfertigen, wohl wissend, dass das gänzlich sinnlos ist.« Dass es dem Autor, der in den 1970er Jahren mit an der Spitze der linken Aktionen gegen die antisemitische NPD stand, ins Herz trifft, dass ausgerechnet er als Antisemit denunziert wird, ist mehr als verständlich. Vielleicht schließt er deshalb sein Buch mit den klaren Worten: »Antisemitismus und Antikapitalismus schließen sich aus wie Wasser und Feuer.«

Wolfgang Gehrcke: Rufmord. Die Antisemitismus-Kampagne gegen links. PapyRossa, Köln 2015. 177 S., br., 12,90 €.

Anmerkung der Redaktion:
Klaus Lederer legt Wert auf die Feststellung keinesfalls mit entstellenden Zitaten gearbeitet zu haben.

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