Ruf nach guter Arbeit im Callcenter

Linksfraktion fordert einen Branchentarif, Gütesiegel und eine Anpassung der Förderpolitik

  • Wilfried Neiße und Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Verhältnisse in den Callcentern haben sich etwas verbessert. Die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen sind aber immer noch schlecht. Die LINKE macht sich für ein Gütesiegel stark.

Als Studentin hat die junge Frau oft in Callcentern gejobbt und dort per Telefon zum Beispiel Lampen an Firmen verkauft. Mit ihrer angenehm dunklen Stimme und ihrer sympathischen Art war sie dabei sehr erfolgreich. Soweit lief es gut, weil sie sich selbst gegen einem festen Stundenlohn und für eine Bezahlung auf Erfolgsbasis entschieden hatte. Aber irgendwann hielt sie den Druck nicht mehr aus. Immer freundlich sein und gut gelaunt wirken, auch wenn sie sich nicht fühlte, dazu der Eindruck, mit den Lampen ihre Seele zu verkaufen. Es ging nicht mehr. Und eine andere Stelle in einer anderen Branche fand die Frau nicht. Sie musste Arbeitslosengeld II beziehen.

Auch wenn sich für de Beschäftigten der Callcenter im Land in den vergangenen Jahren einiges verbessert hat, bleiben sie schlecht entlohnt und extrem stark beansprucht. Der Landtagsabgeordnete René Wilke (LINKE) findet, es müsste ein Branchentarifvertrag her, um die Situation zu verbessern. Zudem sollte es Gütesiegel und Zertifizierungen geben. Auch müsste die Förderpolitik angepasst werden. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes von 8,50 Euro jedenfalls habe die Einkommen in der Branche nur unwesentlich verbessert. Denn gleichzeitig seien Boni und Zusatzzahlungen gestrichen worden, so dass im Einzelfall das Einkommen sogar gesunken sei.

Mit rund 21 000 Euro Jahresverdienst pro Mitarbeiter liegen Brandenburgs Callcenter im Bundesvergleich nach wie vor im unteren Mittelfeld. »In Bayern und Baden-Württemberg werden durchschnittlich fast 30 000 Euro verdient.« Nur 0,8 Prozent der Callcenter-Agents sind laut einer Umfrage der Gewerkschaft ver.di mit ihrem Lohn zufrieden. Kein Wunder sei, dass der Wegzug der Arbeitskräfte anhalte, sagt Wilke.

Hohe Fluktuation der Arbeitskräfte setzt auch Arbeitgeber zunehmend unter Druck, unterstrich der Politiker. Erste Callcenter haben deshalb reagiert und sind Wilke zufolge um einen Imagewechsel bemüht. Denn zufriedenstellende Arbeit wäre auch ein Standort- und Wettbewerbsvorteil. »Unser Ziel ist es, die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in der Callcenter-Branche zu verbessern«, betont Wilke. Doch die Arbeitsbedingungen seien teilweise noch sehr weit von »guter Arbeit« entfernt. Wilke weiß: »Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beklagen neben niedrigem Lohn auch Schichtdienst, hohen Druck, hohe Arbeitsintensität, steigende Arbeitsanforderungen und schlechte Arbeitsbedingungen.« 91 Prozent der Befragten empfinden ihre Situation als belastend oder sehr belastend. Die Folge seien Unzufriedenheit und ein bemerkenswert hoher Krankenstand. Callcenter-Beschäftigte haben im Schnitt 30,2 Fehltage pro Jahr. Der Durchschnitt aller übrigen Branchen liege bei 20,5, erklärt Wilke.

Früher gab es teils drastische Reaktionen, wenn Mitarbeiter versuchten, in einem Callcenter einen Betriebsrat zu gründen. Die Leute schlecht bezahlen, sie überwachen, am liebsten nicht auf die Toilette gehen lassen und auch noch anschnauzen - das schien in diesem Gewerbe die Regel zu sein. Wer sich das nicht gefallen ließ oder mal zu wenig Vertragsabschlüsse schaffte, flog ganz schnell auf die Straße.

Einige Chefs bemühten sich, die Situation zu verbessern, gesteht Wilke zu. Doch wer seinen Beschäftigten pro Stunde fünf Minuten Bildschirmfreiheit gewähre, der gerate in einen Konkurrenznachteil zu Firmen, die skrupellos sind. Wilke glaubt, dass der Staat mit günstigen Förderkonditionen engagierte Firmen belohnen sollte.

Jeder zehnte Callcenter-Agent in Berlin und Brandenburg arbeite heute in Frankfurt (Oder), schätzt Wilke. Callcenter zählen zu den wichtigsten Arbeitgebern am Ort, ohne sie hätte Frankfurt (Oder) rund 2000 Arbeitsplätze weniger. Während anderswo viele Stellen in der Branche unbesetzt bleiben, stabilisierte sich die Situation in Frankfurt (Oder).

Callcenter haben sich von reinen Verkaufsabteilungen zu Servicecentern mit stark wachsenden Anforderungen an die Mitarbeiter gewandelt. Über sie werden beispielsweise Arttermine vergeben oder Krankenkassen lassen Fragen ihrer Versicherten beantworten. Fast 20 000 Beschäftigte arbeiten brandenburgweit in rund 130 Callcentern.

Die eingangs erwähnte junge Frau hat nach jahrelanger Pause wieder in einem Callcenter angefangen. Bevor sie das Jobcenter dazu verpflichtete, bewarb sie sich lieber selbst. Denn Unternehmen dürfen Langzeitarbeitslosen aufgrund einer Ausnahmeregelung anfangs den Mindestlohn vorenthalten.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -