»Dikhen amen!« heißt »Seht uns!«
Ein Verein ermutigt junge Sinti und Roma, zu ihrer Identität zu stehen
Das Betteln durch Kinder soll gesetzlich verboten werden, und im verwahrlosten Schöneberger »Horrorhaus« in der Grunewaldstraße rückt die Polizei fast täglich an. Gemeinsam haben diese Ereignisse vor allem eines: Immer ist in ihrem Zusammenhang auch von den Roma die Rede.
Das verfestigt, was viele Menschen ohnehin glauben. Die Roma betteln, sie behandeln ihre Kinder schlecht, und wo immer sie auftauchen herrschen Schmutz, Lärm und Gewalt. Kaum eine andere Minderheit ist mit derart vielen Vorurteilen konfrontiert. Studien zeigen, dass Sinti und Roma die gesellschaftliche Gruppe sind, der die Menschen in Deutschland am wenigsten Sympathie entgegenbringen. Und die größte Minderheit Europas hat nur wenig Fürsprecher.
Der Verein »Amaro Drom« setzt sich für die Wünsche und Probleme der Sinti und Roma ein. Am Donnerstag eröffnete er sein Büro im Aufbau-Haus am Moritzplatz. Dort sind nun sechs Roma-Organisationen unter einem Dach. Die Jugendorganisation von Amaro unterstützt auch die Roma-Familien aus dem »Horrorhaus«. Sie seien nicht daran schuld, dass ihnen auf dem überteuerten Berliner Wohnungsmarkt keine andere Chance bleibe, als in solchen Verhältnissen unterzukommen, sagt Vorstandsmitglied Merdjan Jakupov.
Ziel von »Amaro Drom« ist es vor allem, die jungen Sinti und Roma zu stärken. »Ihr habt keine Kultur, ihr zieht umher, ihr gehört nicht in unsere Gesellschaft. Das ist es, was junge Roma ständig hören«, so der Vorsitzende Merfin Demir. Von ihrem Selbstbewusstsein bliebe da nur wenig. Viele Jugendliche verleugnen aus Scham und Angst vor Stigmatisierung ihre Herkunft. Demir erzählt von einem jungen Mann, der sich seit seiner Kindheit als Inder ausgegeben habe. »Wir versuchen das Selbstwertgefühl dieser Menschen zu stärken, damit sie zu kritikfähigen und kritischen Bürgern dieser Gesellschaft werden«, betont Demir.
»Dikhen amen!« ist ein solches Projekt des Vereins, das gerade angelaufen ist. »Seht uns!« heißt es übersetzt. In Workshops wird jungen Sinti und Roma beigebracht, wie sie für Antiziganismus sensibilisieren und andere junge Menschen ermutigen können, zu ihrer Identität zu stehen. Sie sollen dann als Multiplikatoren in Jugendeinrichtungen gehen und selbst Weiterbildungen organisieren.
»Es ist wichtig, dass die Perspektiven junger Sinti und Roma endlich Öffentlichkeit bekommen und nicht immer nur über sie gesprochen wird«, sagt Projektleiterin Anna Friedrich. Und Melanie Weiss, die pädagogische Koordinatorin, setzt große Hoffnungen in die Wirkung solcher Projekte. »Noch sind wir keine Bewegung. Aber ich gehe davon aus, dass es in zehn Jahren so etwas wie eine Sinti- und Roma-Bewegung geben kann.« Auch sie erzählt von eigenen rassistischen Erfahrungen im Alltag. Zwei Hochschulstudien hat sie abgeschlossen. Als sie sich einmal verlaufen hatte und eine Passantin nach dem Weg fragen wollte, wurde sie von dieser für eine Bettlerin gehalten.
Zur Eröffnungsfeier ist auch Zoni Weisz gekommen. Er ist niederländischer Sinto und hat den Holocaust überlebt. Auf der Fahrt nach Auschwitz, wo seine Familie starb, konnte er als kleiner Junge entkommen. »Wir müssen bei den Nicht-Roma ein Bewusstsein für unsere Kultur und unsere Geschichte schaffen«, sagt er. Dann sei mehr gegenseitiges Verständnis möglich. Bildung, so meint er, sei der Schlüssel zur gleichberechtigten Partizipation. Weisz stellt sich vor, dass gut ausgebildete Roma in Zukunft Schlüsselpositionen in der Gesellschaft einnehmen könnten und sich dort für Gleichberechtigung einsetzen.
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