Islamisten setzen auf Macht der Hoffnungslosigkeit
Tunesien bangt nach erneutem Terroranschlag auf Urlauber um die Zukunft des wichtigen Tourismus
Nach dem verheerenden Anschlag auf Touristen in einem Hotel bei Sousse war das Entsetzen auch bei den Tunesiern am Wochenende groß. Viele können es einfach nicht fassen, starben doch erst vor drei Monaten bei einem Anschlag auf das Bardo-Nationalmuseum in Tunis 21 Touristen; nun wurden sogar 38 Menschen bei einem Attentat getötet, die meisten davon Urlauber aus Großbritannien und anderen europäischen Ländern. Noch ist die Identität vieler Toter noch nicht geklärt, doch soll sich unter ihnen nach Angaben der Behörden mindestens ein Deutscher befinden.
Am gut besuchten Strand des »Imperial Merhaba Hotels« herrschte am vergangenen Freitagvormittag ausgelassene Stimmung. In dem hauptsächlich bei deutschen und englischen Gästen beliebten 350-Betten-Hotel verlief die Vorsaison aufgrund der vielen Stammkunden besser als in den benachbarten Bettenburgen zwischen Sousse und dem Hafen von Kantaoui, dort wo das touristische Herz des »All-inclusive-Tourismus« Tunesiens schlägt. Der mit schwarzen Shorts und Polohemd gekleidete junge Mann in dem weißen Boot fiel da zwischen Wasserskifahrern und Jetskipiloten niemandem weiter auf. Die Strandwachen hielten den 23- jährigen Seiffedine R. wohl auch aufgrund seiner langen Haare für einen Animateur. Bis der Elektrotechnik-Student aus Kairaoun eine in einem gelben Sonnenschirm versteckte Kalaschnikow hervorholte. Eine halbe Stunde sollte es dauern, bis bewaffnete Polizisten von den Kontrollpunkten an beiden Enden des Strandabschnittes herbeieilten und den Amoklauf stoppten. R. wurde von Sicherheitskräften erschossen.
38 Tote und Dutzende Verletzte forderte sein Blutrausch. Er feuerte auf die fliehenden Touristen, und Augenzeugen berichten unter Tränen von der Seelenruhe, mit der er zielte und schoss. Italiener, Engländer, Belgier und Deutsche sind unter den Opfern, Frauen und Kinder. Die tunesischen Angestellten blieben wie schon bei dem Angriff auf das Bardo-Museum im März verschont.
Experten sind sich sicher: Die Bilder der toten Urlauber auf ihren Sonnenliegen und das Schreien der Fliehenden werden Tunesien in eine schwere Wirtschaftskrise stürzen. Gerade hätten sich zahlreiche Reiseveranstalter entschlossen, wieder zurückzukehren, sagt Taufik Gaied resigniert. Er ist Leiter des Tourismuszentrale auf Djerba, wo die TUI-Konzern soeben einen Robinson Club eröffnet hat. Zugleich nehme auch die Tourismusbranche sehr wohl wahr, dass sich die Tunesier immer wieder gegen den Terror auflehnen würden, erzählt er mit sichtbarem Stolz.
Zehntausende Bürger waren nach Bardo auf die Straße gegangen und hatten dem religiösen Extremismus eine Absage erteilt. Auf Djerba organisierten die Hoteliers Anfang Juni das Musikfestival »Frieden und Toleranz«. Auch am Samstagabend kam es zu einer spontanen Demonstration, als sich Hunderte auf dem Weg zum Ferienhotel »Imperial Merhaba« versammelten, mit Kerzen in den Händen, Nationalflaggen und Schilder mit der Aufschrift »Nein zu Terroristen« - ob nun Islamischer Staat (IS), Ansar Scharia oder anderen militanten Organisationen.
Mit dem Mord kurz vor Beginn der Sommersaison, zu dem sich der IS-Unterstützer bekannt habe, sei der »schlimmstmögliche Fall« eingetreten, so ein Hotelbesitzer in Sousse. »Die Reiseveranstalter hatten die Preise bereits so weit gesenkt, dass wir viele Mitarbeiter nur saisonal anstellen können. Nun droht vielen Familien Verarmung durch Arbeitslosigkeit.« Eine Eskalation der angespannten Wirtschaftslage bis hin zu sozialen Unruhen ist das offen erklärte Ziel der Islamisten.
Seit dem Wahlsieg der früheren Regierungspartei Nidaa Tounès rufen radikale Imame in den vielen Hinterhofmoscheen Tunesiens zum Kampf gegen die ihrer Meinung nach zurückgekehrte Diktatur auf. Premierminister Essidi wiederum rief die Tunesier zu Geschlossenheit auf und kündigte an, über 80 Salafisten-Moscheen zu verbieten.
Immer wieder war zuletzt aber auch Kritik an der schlampigen Arbeit der Sicherheitsbehörden laut geworden. Ein französischer Reporter stieß bei dem Besuch einer Botschaft in Tunis auf geladene Waffen, die Beamte während ihrer Mittagspause in einem Wachhäuschen zurückgelassen hatten. Vertreter der Zivilgesellschaft warnen zudem, dass sich mit einem härteren Vorgehen gegen die Moscheen der Graben zwischen der im Nordosten dominierenden liberalen Elite und den konservativen und verarmten Sahel-Provinzen vergrößern könnte. Tunesiens kleine und schlecht ausgerüstete Armee wird nach Meinung vieler Experten auch künftig Anschläge nicht verhindern können.
Am Wochenende flogen die ersten Reiseveranstalter Hunderte Touristen mit Sondermaschinen nach Hause. Der Hannoveraner TUI-Konzern bietet seinen Kunden nun die kostenfreie Stornierung bereits gebuchter Tunesien-Reisen an. Auch deshalb bleibt die Stimmung im Lande schlecht. Man ahnt, dass die Touristen nicht so schnell wiederkommen werden. Die 45-jährige Tourismuskauffrau Hiba Said steht der Schock ins Gesicht geschrieben: »Wir müssen uns endlich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sich Tausende junger Tunesier den Extremisten angeschlossen haben, in Syrien, Libyen und auch zu Hause. Wir befinden uns in einem unerklärten Krieg.«
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