Verteidigungsbündnis
Der Politikwissenschaftler Werner Ruf über ein nominelles Verteidigungsbündnis, das tatsächlich ein Kriegspakt ist
nd: Herr Ruf, Sie haben kürzlich nicht nur im nd, sondern auch auf einer Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung darauf hingewiesen, dass die NATO alles andere als ein »Verteidigungsbündnis« ist. Vielmehr handele es sich um ein Kriegs- bzw. Angriffsbündnis. Wie begründen Sie das?
Ruf: Spätestens seit den Interventionen im ehemaligen Jugoslawien hat die NATO den Nordatlantik-Vertrag von 1949 radikal in zwei zentralen Punkten verändert. Erstens wurde ihre regionale Zuständigkeit für den nordatlantischen Bereich und die Territorien der Mitgliedstaaten aufgegeben, indem sie sich selbst eine Zuständigkeit für weltweites »Krisen-Management« zuschrieb. Und zweitens erfand sie den Begriff der »Nicht-Artikel-5-Operationen«, also von militärischen Operationen, die nicht durch den Artikel 5 des Vertrages gedeckt sind, der die Zuständigkeit des Bündnisses auf die Verteidigung der Territorien der Mitgliedstaaten beschränkt. Das ist nichts anderes als die Anmaßung, weltweit mit Waffengewalt für »Ordnung« sorgen zu wollen. Und diese Anmaßung steht in klarem Widerspruch zu dem im Vertrag immer wieder beschworenen Bekenntnis zu den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und damit zum Verbot der Anwendung und Androhung von Gewalt in den internationalen Beziehungen.
Haben Sie ein Beispiel parat, wo die NATO vorgab zu »helfen«, in Wirklichkeit aber das Gegenteil tat?
Zu nennen wären hier vor allem die Interventionen in Afghanistan und in Libyen, wo die NATO sich auf Resolutionen der Vereinten Nationen berief, diese aber weit über deren Inhalt hinaus selbständig deutete und Kriegshandlungen vornahm, die von diesen Mandaten in keiner Weise gedeckt waren: Die NATO führte selbständig Krieg und griff parteiisch in Bürgerkriege ein. Selbstverständlich auf Seiten der ihr selbst genehmeren Partei.
Und wieso geriert sich die NATO so? Um was geht es ihr hierbei?
Wäre die NATO ein Verteidigungsbündnis gewesen, hätte sie sich parallel zur Warschauer Vertrags-Organisation 1990 auflösen müssen. Stattdessen ergriffen die USA die Chance, mit Hilfe dieses Bündnisses ihre weltweite militärische Hegemonie zu sichern.
Bei den Interventionen geht es daher um ganz konkrete Interessen, nicht zuletzt auch um so genannte Regime Changes: Politisch unliebsame, weil zu wenig devote Regierungen werden beseitigt. Im Kern geht es dabei um Ressourcen- und Hegemonie- bzw. Geopolitik. Die Folge davon ist der Zerfall von Staaten, die dann zunehmend zu Horten des Terrorismus werden.
Und das ist alles demokratisch abgesichert? Ich meine: Da wird in demokratischen und transparenten Prozessen in den NATO-Mitgliedsstaaten entschieden: »Ja, als nächstes greifen wir dieses Land an«?
Nein, so ist das nicht. Die Beschlüsse werden vom NATO-Rat getroffen, dem höchsten Gremium der NATO, in dem sämtliche Mitgliedstaaten vertreten sind. Das waren bis zum Ende des Kalten Krieges 16, heute sind es 28, wobei die Neumitglieder fast alle aus Ost- und Südosteuropa kommen.
Im NATO-Rat wurde bisher aber noch nie abgestimmt: Die Entscheidungen werden »im Konsens« getroffen. Gerade deshalb ist der deutsche Parlamentsvorbehalt zwar ein schwaches, aber wichtiges Element der parlamentarischen Kontrolle über Entscheidungen, die Krieg und Frieden betreffen. Ihn gilt es zu sichern und zu stärken – wider die Verselbständigung der NATO-Bürokratie, die bisher mangels völkerrechtlicher Gründe immer versucht hat, einen Krieg als »Verteidigung« der Menschenrechte zu inszenieren.
Diese ganze Entwicklung widerspricht übrigens auch den NATO-Statuten selbst. In Paragraph 1 des NATO-Vertrages heißt es ausdrücklich: »Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind.«
Was wäre denn Ihre Idee, wie mit der NATO aktuell umzugehen ist?
Die NATO hat sich in den letzten 20 Jahren zu einer Organisation entwickelt, die – auch mit gewaltsamen Mitteln – die Interessen des Westens durchsetzt. Dies widerspricht sowohl dem Geist als auch den Buchstaben der Charta der Vereinten Nationen.
Um die Welt friedlicher zu machen sollten in unmittelbarer Zukunft zumindest die Nicht-Artikel-5-Operationen verhindert werden. Mittelfristig müssten zudem Staaten, die es ernst meinen mit der Charta der Vereinten Nationen, aus dem Bündnis austreten. Das ist mit einer Kündigungsfrist von einem Jahr ohne Weiteres möglich. In einem ersten Schritt könnte also etwa Deutschland aus dem Militärausschuss der NATO austreten, wie dies Frankreich bereits im Jahr 1963 tat, bis Präsident Sarkozy diese Entscheidung wieder rückgängig machte.
Im NATO-Rat hingegen könnte Deutschland zunächst verbleiben, allerdings darauf insistieren, dass das »Konsens«-Prinzip zugunsten von Abstimmungen aufgegeben wird, die die Regierungen viel deutlicher in die Verantwortung für ihr Handeln bzw. Nichthandeln nehmen. Vielleicht würden sich dann ja auch andere Mitgliedstaten widersetzen. Ein Indiz dafür, dass eine solche positive Entwicklung möglich ist, zeigt die Tatsache, dass sich am Krieg gegen Libyen nur 14 der 28 Mitgliedstaaten beteiligt haben…
Werner Ruf ist emeritierter Professor mit dem Arbeitsschwerpunkt Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik.
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