»Ich komme mir vor wie im Kino, sagt Karl«
Der jungen Australierin Brooke Davis ist mit ihrem Erstlingsroman ein ganz großer Wurf gelungen
Ein internationaler Bestseller sei dieser im Original 2014 erschienene Roman, sagt der Verlag. Eigentlich müsste daraus auch ein Filmereignis werden. Denn was da beim Lesen so turbulent vor einem abrollt, man kann es vor sich sehen. »Ich komme mir vor wie im Kino, sagt Karl« auf Seite 226, als ein kleiner Junge mit aufgeschminktem Schurrbart und einer schwarzen Maske um die Augen ihn aus dem Zugabteil befreit, in das er eingeschlossen war. Jeremy, der sich Captain Everything nennt (die Autorin hat da den Namen einer britischen Punkband bemüht), überreicht ihm eine Karte von Australien, eine Wasserflasche und Müsliriegel für den Weg. Ihm und der achtjährigen Millie; die zwei haben auch eine Schaufensterpuppe namens Manny dabei. Zu dritt also sollen sie vom fahrenden Zug abspringen. Dazu muss man aber wissen, dass Karl siebenundachtzig ist ...
Was sich als ganz und gar verrückte Geschichte liest, voller unglaublicher Wendungen und, wie gesagt, filmreifer Szenen, verliert allerdings nie jenen ernsten Hintergrund, der sich in der Gestaltung durch die junge Autorin mit einem persönlichen Schreibanlass verbindet. Wenn man in der Kurzbiografie von Brooke Davis liest, sie habe an der University of Canberra Creative Writing studiert, könnte man ja misstrauisch werden: Vorsicht vor eingängig marktgerechter Massenproduktion! Dass ein Buch marktgerecht und gleichzeitig literarisch bedeutsam ist, diese Seltenheit ist Davis’ Mutter zu verdanken. Sie starb bei einem Unfall, während die Tochter, Mitte Zwanzig, durch Südostasien reiste. Auf dem Ho-Chi-Minh-Flughafen erhielt sie eine E-Mail von ihrem Bruder: »Bitte ruf so bald du kannst zu Hause an.«
»Wir alle wissen auf der Verstandesebene, dass diese Möglichkeit besteht, aber nur wenige wissen es aus eigener Erfahrung. Was ist der richtige Weg, mit diesem Wissen zu leben?« - Im Vorwort zum Buch erzählt die Autorin, wie sie ein paar Monate später erneut nach Übersee flog, diesmal nach Osteuropa. An ihrer Seite ein guter Freund, dessen Vater zu Hause in Australien langsam dem Krebs erlag. »Auf nächtlichen Fährüberfahrten und langen Wanderungen durch Wald und Feld sprachen wir offen und ehrlich über Trauer und Tod, und über die verschiedenen Gestalten und Formen, die beides annehmen kann.«
Die Erfahrung von Trauer und Tod - das ist es, was die drei Hauptgestalten dieses Romans verbindet. Der kleinen Millie ist der Vater im Krankenhaus gestorben, und von der Mutter wurde sie in der Unterwäscheabteilung eines Kaufhauses zurückgelassen. Sie solle dort warten. Aber die Mutter kam nicht zurück, auch nach mehreren Tagen nicht. Brooke Davis lässt miterleben, wie sich das kleine Mädchen versteckt, sucht und hofft - im Blick jene männliche Schaufensterpuppe, zu der sie bald eine Beziehung herstellt. Könnte es nicht sein, dass sich die Toten in Plastik verwandeln? Total verrückt und todtraurig: Überall, wo Millie ist, hinterlässt sie eine Nachricht: »Ich bin hier, Mum.«
Karl lernt sie im Kaufhausrestaurant kennen. Agatha Pantha wohnt im Haus gegenüber von Millies verlassener Wohnung. Dem Kind bleibt nichts übrig, als um etwas zu essen zu bitten. Aber Agatha, zweiundachtzig, seit dem Tod ihres Mannes allein, ist in ihrer Einsamkeit so verbittert, dass sie die liebe Kleine zunächst zurückweist. Wie die Verkrustungen um ihre Seele langsam abblättern, das allein schon wäre ein Roman für sich. Was Agatha als den Fluch des Alterns erleiden muss, das wird nicht etwa durch einen Zauber von ihr genommen. Und doch ist es am Ende so, als ob ein Wunder geschehen wäre.
Beim Lesen sieht man eine Margareth Rutherford vor sich, älter und unförmiger, aber so beherzt wie diese Schauspielerin in den Agatha-Christie-Verfilmungen. Und man sieht zwei sehr alte Menschen, wie sie die Liebe entdecken … Wie die junge Autorin die verschiedenen Wege der Trauer beschreibt, wie sie die winzigen Lichtfunken sucht, die aus einem Schmerz herausführen können, den die Betroffenen für ewig halten, das ist so real, so glaubwürdig, zu Herzen gehend, dass man sich beim Lesen die ganze Zeit zwischen zwei Gefühlen befindet: dem Mitleiden und dem Mitgerissensein von einer Handlung, die mit einem Augenzwinkern natürlich erfunden ist. »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« fällt einem ein, der Weltbestseller von Jonas Jonasson, der auch davon lebt, einem für das eigene Alter noch die tollsten Abenteuer zu versprechen. Wenigstens kann man seine Würde behaupten. Ja man muss sogar darauf bestehen, auch wenn die Umwelt einen nicht mehr ernst nimmt.
Karl ist von seiner Familie für verrückt erklärt und ins Altersheim abgeschoben worden. Er flieht - weiteren Nachstellungen entgegen. Ein alter Mann und ein kleines Mädchen: Kindesmissbrauch? Ein alter Mann und eine Schaufensterpuppe: Weg mit dem Sexspielzeug! Zu wehren hat er sich die ganze Zeit, aber als er Millie trifft, steht er in einer Verantwortung. Er muss ihr helfen, die Mutter zu finden, egal, was geschieht.
Tod, Trauer, Tatkraft, Liebe. »Ihr werdet alle sterben«, ruft Millie durch die Sprechanlage des Zuges. Jeremy hilft ihr dabei, der Sohn der Schaffnerin. So begegnet sie immer wieder Menschen, die ihr beistehen. Dass alle sterben müssen, leider, das stimmt. Man kann es verdrängen, kann sich empören. Aber wie wir bis dahin leben, darüber lässt dieses Buch nachdenken.
Brooke Davis: Noch so eine Tatsache über die Welt. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Becker. Verlag Antje Kunstmann. 279 S., geb., 19,95 €.
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