»Es braucht einen Gesamtaktionsplan«
American Jewish Comittee fordert vor Konferenz, Potenziale gegen Antisemitismus besser zu nutzen
Worum geht es bei der Strategiekonferenz gegen Antisemitismus?
Die Konferenz will in erster Linie politische Impulse geben. Zum einen wollen wir den Stand der wissenschaftlichen Erforschung des Antisemitismus auf den Prüfstand stellen. Zum anderen sollen auch konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung jedweder Form des Antisemitismus entwickelt werden. Dem Netzwerk geht es dabei immer auch darum, eine jüdische Perspektive zum Ausdruck zu bringen.
Neben der Bekämpfung des Antisemitismus steht die Erforschung seiner Facetten im Zentrum. Beobachten Sie neue Formen von Judenfeindschaft?
Im Fokus stehen der israelbezogene Antisemitismus sowie der Judenhass als Schlüsselmoment des islamistischen Extremismus. Die Beschäftigung mit beiden Spielarten ist entscheidend dafür, wie wohl und sicher sich Juden in Deutschland und Europa fühlen. Aber auch die Verwurzelung antisemitischer Ressentiments in der Mitte der Gesellschaft und die Funktion, die der Antisemitismus innerhalb von unterschiedlichen Verschwörungstheorien einnimmt, beschäftigen uns.
Ähnlich dem bundesweiten Trend, ist auch in Berlin ein Anstieg antisemitischer Straftaten zu verzeichnen. 2014 gab es insgesamt 192 polizeilich registrierte Vorfälle. Die häufigsten Taten waren Hetzbriefe an die Jüdische Gemeinde, Schmierereien und das Entfernen von Stolpersteinen. Ist Berlin besonders betroffen?
Die Dimension antisemitischer Straftaten ist in Berlin viel höher, als dies die offiziellen Zahlen glauben machen. So zählt die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) für das vergangene Jahr 70 weitere Vorfälle, die nicht in der Polizeistatistik auftauchen. Darunter auch 15 Gewaltdelikte. Ein großer Anstieg ist durch die anti-israelischen Demonstrationen im letzten Sommer zu erklären. Doch: Viele Vorfälle werden gar nicht als antisemitisch eingestuft, sondern als Straftaten in Bezug auf den Nahostkonflikt bezeichnet. Dies verschleiert die Realität. Die tatsächlichen Zahlen zeigen: Antisemitismus ist in Berlin ein großes Problem.
Nach antisemitisch motivierten Übergriffen sprachen Gemeindemitglieder wiederholt von No-Go-Areas für als Juden erkennbare Menschen in Berlin. Dies seien vor allem Bezirke mit vielen muslimischen Migranten und Viertel, in denen rechtsextreme Einstellungen verbreitet sind. Teilen Sie das?
Der Zentralratspräsident Josef Schuster hat mit seiner Warnung zum Ausdruck gebracht, was unter vielen Gemeindemitgliedern eine große Sorge ist. Dies kann auch durch Zahlen belegt werden. Nach einer Umfrage der EU »Fundamental Rights Agency« unter jüdischen Gemeindemitgliedern in Deutschland aus dem Jahr 2013 haben 63 Prozent der Befragten angegeben, jüdische Symbole in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Ein Drittel der Befragten gaben an, konkrete Übergriffe und Anfeindungen erlebt zu haben. Es kommt also nicht von ungefähr, dass viele Jüdinnen und Juden sehr vorsichtig sind und ihre Identität verstecken. Dieser unhaltbare Zustand muss problematisiert werden.
Im Sommer 2014 kam es auch in Berlin zu Demonstrationen, auf denen Teilnehmer antisemitische Parolen gerufen haben. Am kommenden 11. Juli findet in Berlin der jährliche »Al-Quds-Marsch« statt, bei dem es in der Vergangenheit immer wieder zu antisemitischen Sprechchören gekommen ist. Wie bewerten Sie diese Aufmärsche?
Wir wünschen uns ein stärkeres Engagement der Politik. Es kann nicht sein, dass jährlich mitten in Berlin antisemitische Parolen gerufen und Fahnen von Terrorgruppen wie der libanesischen Hisbollah gezeigt werden dürfen. Hiergegen muss konsequent eingeschritten werden. Die Berliner Politik kann an die Erfahrungen mit Nazi-Aufmärschen anknüpfen und sollte alle Mittel ausschöpfen, um Angriffe auf die Vielfalt und Toleranz zu unterbinden. Darüber hinaus ist es wichtig, dass alle Demokraten an diesem Tag Flagge gegen diese Hassdemonstration zeigen.
Haben Sie Erwartungen an den Senat, was dieser zur Bekämpfung des Antisemitismus tun kann?
Berlin sollte das Potenzial seiner Zivilgesellschaft, die sich in der Stadt gegen Antisemitismus stellt, besser nutzen. Wichtige Bildungsprojekte werden nicht langfristig gefördert und die Erkenntnisse nicht umgesetzt. Es braucht hier einen Gesamtaktionsplan. Lehrer und Polizisten müssen besser im Umgang mit den Formen des Antisemitismus geschult und das statistische Erfassungssystem sollte reformiert werden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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