Türkei eröffnet kurdische Front neu
Nach Luftangriffen gegen PKK-Stellungen droht ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs
»Niemand soll davon ausgehen, dass die Türkei morgen oder in naher Zukunft in Syrien eingreift«, sagte der Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am späten Donnerstagabend dem Fernsehsender Kanal 7. »Das ist Spekulation.« Zwar werde Ankara »nicht zögern«, wenn die nationale Sicherheit des Landes bedroht sei, fügte Davutoglu hinzu. Aber derzeit sei ein solches Eingreifen »kein Thema«.
In Irak sieht das anders aus. Am 30. Juni 2015 griff die türkische Luftwaffe zum ersten Mal seit Beginn des Friedensprozesses die PKK-Stellungen in Nordirak an. Bisher hatte es zwar Gefechte zwischen der türkischen Armee und PKK-Kämpfern innerhalb der türkischen Grenzen gegeben, bei denen es auch immer wieder zu Todesopfern kam. Aber seitdem die PKK den Großteil ihrer Kämpfer aus der Türkei nach Irak zurückgezogen hatte, galten diese Rückzugsgebiete de facto als geschützt. Darüber, wie umfangreich die Luftangriffe waren und welche Gebiete genau bombardiert wurden, existieren widersprüchliche und kaum nachprüfbare Angaben. Als relativ sicher gilt, dass das PKK-Hauptquartier in den Kandil-Bergen entgegen früheren Meldungen nicht bombardiert wurde. Bei der Bombardierung von PKK-kontrollierten Gebieten in Nordirak kam nach PKK-Angaben niemand zu Schaden.
Auch wenn die PKK nach eigenen Angaben keine Verluste zu verzeichnen hatte, ist der Luftangriff symbolisch eine Grenzübertretung. So war es auch wenig überraschend, dass die Antwort der PKK rasch kam und recht eindeutig fiel. In einer Presseerklärung noch am gleichen Tag wurde der Luftangriff als endgültiger Bruch des De-facto-Waffenstillstands zwischen der Türkei und der PKK bezeichnet. Die PKK behält sich demnach das Recht vor, Vergeltungsschläge auszuüben. Wie solche Vergeltungsschläge aussehen könnten, wird aber nicht näher beschrieben. Jedenfalls dürfte inzwischen kaum noch von einem »Friedensprozess« gesprochen werden; vielmehr droht das Wiederaufflammen der Kämpfe zwischen der Türkei und der PKK.
Die türkischen Überlegungen, in Syrien militärisch zu intervenieren, werden von der kurdischen Seite ebenfalls als Angriff auf die kurdisch dominierte Rojava-Region in Nordsyrien angesehen und verschärfen den türkisch-kurdischen Konflikt weiter. Als in der vergangenen Woche eine türkische Intervention unmittelbar bevorzustehen schien, gab es sehr eindeutige Warnungen der PKK und der PKK-nahen PYD. Die Türkei wird verdächtigt, Gegner der kurdischen PYD in Syrien zu unterstützen - und damit sogar den Islamischen Staat (IS). Als in der vergangenen Woche der IS in einer Selbstmordaktion Kobane angriff und ein Massaker an Zivilisten anrichtete, wurde der Türkei vorgeworfen, diesen Angriff ermöglicht zu haben. Auch wenn dieser Vorwurf möglicherweise unzutreffend ist, spricht einiges dafür, dass die Türkei islamistische Rebellen in Syrien durch Waffenlieferungen und durch die Duldung der Transitwege über die Türkei für Dschihadisten aus dem Kaukasus und Europa direkt und indirekt unterstützt. Unabhängig von der genauen Beweislage ist der Eindruck bei vielen Kurden recht eindeutig, sodass eine türkische Intervention in Syrien als ein Angriff auf die Kurden verstanden würde. Dies würde den Konflikt in der Türkei weiter anheizen.
Auch die sonstigen politischen Entwicklungen in der Türkei deuten auf keine Entspannung der Lage - ganz im Gegenteil. Die sich abzeichnende Koalition aus der bisherigen Regierungspartei AKP und der türkisch-nationalistischen MHP dürfte eine friedliche Lösung der »Kurdenfrage« in den nächsten Jahren ausschließen. Eine der zentralen Forderungen der MHP in den Koalitionsverhandlungen mit der AKP war der Abbruch oder zumindest die Stilllegung der Friedensverhandlungen mit der PKK. In dieser gespannten Lage kann jeder Funken den blutigen Bürgerkrieg der 1990er Jahre wieder aufflammen lassen. So sind die kurzzeitig hoffnungsvolle Stimmung in der Türkei nach dem Wahlerfolg der prokurdischen und linken HDP speziell und die Hoffnungen auf eine friedliche Lösung der »Kurdenfrage« im Besonderen wieder verflogen.
Insgesamt ist eine Zunahme der gewaltsamen Zwischenfälle zwischen der türkischen Armee und der PKK zu verzeichnen. Um eine Wiederkehr des Bürgerkriegs zu verhindern, müssten beide Seiten gegen eine militärische Eskalation arbeiten. Allerdings ist dies von der kommenden AKP/MHP-Koalition kaum zu erwarten, sodass die Hoffnungen eher darauf ruhen, dass die PKK sich nicht provozieren lässt. Ob ihr das gelingt oder Kräfte innerhalb der PKK ebenfalls auf eine Eskalation der Lage setzen, lässt sich derzeit kaum prognostizieren.
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