Eine sympathische Behauptung
Ein Salon will Teil einer Literaturmeile werden, welche die Karl-Marx-Allee wieder beleben soll. Von Christina Matte (Text) und Joachim Fieguth (Bild)
Allabendlich, wenn es dunkel ist, flammt an der Karl-Marx-Allee 78 eine Leuchtschrift auf: »Karl Marx Buchhandlung« funkt sie in die Nacht. Obwohl der letzte dort ansässige Buchhändler vor sieben Jahren aufgeben musste, darf die Schrift nicht entfernt werden: Wie die gesamte Zuckerbäckerallee steht sie unter Denkmalschutz und ist daher zum Leuchten verurteilt. Das wirkt schon beinahe widerständig: Viele materielle Zeugen der DDR konnten in den 1990er Jahren nicht schnell genug geschleift werden, aber die Leuchtschrift, die muss bleiben. Stur verkündet sie ihre Botschaft: Hier befand sich der bekannteste Buchladen Ostberlins. Sowohl DDR- als auch Westbürger kauften hier billig ihre Bücher. Es wäre schön, wenn hier erneut eine Buchhandlung einziehen würde.
Daraus wird wohl nichts werden. Zu groß die Fläche von 300 Quadratmetern, zu wenig potenzielle Kunden auf dem viel zu breiten Boulevard, auf dem samstags die Geschäfte schon mittags schließen. Und doch sieht es so aus, als könnte hier wieder dauerhaft ein Ort der Literatur entstehen. Mit DDR-Nostalgie hat das allerdings nichts zu tun. Junge Leute wie Juri Wiesner gehen mit der geschichtsträchtigen Adresse völlig unbefangen um.
Juri Wiesner, 1969 in Schwedt an der Oder geboren, hat Film- und Fernsehwirtschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) Potsdam-Babelsberg studiert. Als die Hamburger Filmproduktionsfirma Cobblestone 2008 eine Dependance in Berlin eröffnen wollte, sollte Wiesner dort die Geschäfte führen - und passende Räume finden. Für die ehemalige Karl-Marx-Buchhandlung entschied er sich aus zweierlei Gründen. Zum einen gerade wegen ihrer Größe, denn bei einer Filmproduktion stießen im Laufe des Entstehungsprozesses immer mehr Leute dazu: »Wir stellen einfach Tische für sie rein, sofort können sie arbeiten.« Zum anderen, und das wog schwerer, überzeugte Wiesner »die Aura«: »Eine einzigartige Location, die Qualität und Bestand atmet.«
Inzwischen hat Cobblestone Büroräume in der zweiten Etage bezogen; die Leute, die sich an den Schaufenstern im Parterre die Nasen platt drückten und den Werbefilmern bei der Arbeit zusahen, waren wohl doch etwas anstrengend. Dennoch zahlt Cobblestone für die Räume der ehemaligen Buchhandlung weiterhin jeden Monat die Miete. Weil Wiesner von Anfang an das Gefühl hatte: »In die Straße muss Kultur zurück.« Was lag näher, als an einem »Ort mit Aura« eine Kultursendung zu produzieren? Also hat Wiesner monatlich ein paar Lesungen »an den Start gebracht«, sie gefilmt und Verlagen angeboten. »Da habe ich gemerkt, das ist ein ganz anderes Segment«, erzählt er, »jemand muss kommen, der davon Ahnung hat.« Wiesner lernte Vanessa Rémy kennen. Er sagt: »Vanessa ist total vom Fach.«
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Vanessa Rémy hat in ihren 38 Lebensjahren schon vieles gemacht. Geboren in Limburg an der Lahn, studierte sie zunächst an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Frankfurt am Main Schauspiel. Ihr Debüt gab sie im Staatstheater Wiesbaden als Thea in Frank Wedekinds »Frühlingserwachen«. Später wieder Frankfurt am Main, jenes avantgardistische Theater am Turm (TAT), an dem in den 60ern Claus Peymann und Anfang der 70er Rainer Werner Fassbinder gewirkt hatten. Zu Rémys Zeit freilich lief alles längst wieder in ruhigen Bahnen, der Suhrkamp-Verlag suchte im TAT eine junge Stimme für eine Lesung, Dramaturg Bernd Stegemann empfahl Rémy - ihr erster Kontakt zur Buchbranche. Nach der Lesung klopfte die junge Schauspielerin, die wie alle ihres Fachs nicht sicher sein konnte, dauerhaft Erfolg zu haben, »einfach mal« bei Suhrkamp an, wurde Assistentin der Werbeabteilung, schließlich feste Mitarbeiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Die Berufung von Ehemann Jörg als Professor nach Berlin erforderte den Umzug in die Hauptstadt. Während Jörg Rémy an der Hochschule der populären Künste unterrichtete, hat Vanessa Rémy beim Internationalen Literaturfestival gearbeitet. Nach der Geburt ihrer Tochter leitete sie drei Jahre lang beim Aufbau Verlag das Ressort Veranstaltungen. 600 Veranstaltungen im Jahr hat sie dort begleitet, 100 obendrein selbst organisiert - noch zu Hause saß sie bis nachts vor dem Rechner. Als Juri Wiesner von Cobblestone eine Rundmail an alle Verlage schickte, ob sie Lust hätten, die einstigen Karl-Marx-Buchhandlung für Veranstaltungen zu nutzen, da hatte Vanessa Rémy Lust. Wahnsinnige Lust! Sie versteht bis heute nicht, warum sie als Einzige auf Wiesners Angebot reagierte.
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Wir sind verabredet, ich bin zu früh. Die Tür der Karl-Marx-Allee 78 ist noch verschlossen. Verschlossen wie an all den Tagen im Jahr, an denen hier keine Veranstaltungen stattfinden. Schade. Aber besser, als würde die Tür nie mehr geöffnet. Vanessa Rémy kommt mit dem Fahrrad, sie ist pünktlich. Sofort schickt sie sich an, mich von ihrem Projekt zu überzeugen. Ihr Projekt, das ist seit Anfang des Jahres der Salon Karl-Marx-Buchhandlung, kurz Salon KMB. Wenn Vanessa Rémy jemanden überzeugen will, versucht sie, ihn in ihre eigene Begeisterung hineinzuziehen. Die Locken tanzen, Hände und Augen sprechen. Man denkt: Vorsicht, die Frau ist Schauspielerin! Na und? Hauptsache, sie lockt die Verlage. Berlin sei eine pulsierende Stadt, in der alle begeistert mitmachen, schwärmt sie, niemand sitze in seinem Sessel und warte auf schönes Wetter. Ist das so? Sie räumt ein, »das Bezirksamt Friedrichshain haben wir noch nicht locken können«.
Gediegenheit ist das Wort, das mir einfällt, als wir eingetreten sind und ich das Interieur betrachte, das ebenfalls Denkmalschutz genießt. Kronleuchter, in den Wänden Regale, die wie eine Täfelung wirken. Gediegenheit mit Patina. Und Patina ist eben doch nicht ohne konkrete Geschichte zu haben. Die Regale sind wieder gefüllt. Die Bücher, so Rémy, seien Spenden. »Spenden vor allem von älteren Menschen, die die Karl-Marx-Buchhandlung noch kannten und hier einen Ort haben, an dem sie ihre Büchern gern aufbewahrt sehen. Die Bücher stehen nicht zum Verkauf, und wenn Leute nach der Arbeit zu einer Lesung zu uns kommen, finden sie hier eine Café-Situation: Sie können in den Büchern blättern.«
Als Vanessa Rémy noch für den Aufbau Verlag arbeitete, hat sie hier zwei Buchpremieren durchgeführt. Im Sommer 2014 moderierte Katrin Göring Eckhardt die Premiere von Peter Schaars »Überwachung total - Wie wir in Zukunft unsere Daten schützen«, und im Herbst beschäftigte sich Knut Elstermann mit »Tango für einen Hund« von Sabrina Janesch. Für Juri Wiesner von Cobblestone wurde klar: Genau so etwas wollen wir. Er engagierte Rémy als Managerin für den Salon, investierte in die Homepage, in eine Tonanlage und eine Bühne. Der Salon KMB war geboren.
Etliche Ideen Vanessa Rémys sind, um mit dem Namensgeber des Salons KMB zu sprechen, inzwischen »materielle Gewalt« geworden. Knut Elstermann, der im April mit den Filmemachern Barbara und Winfried Junge über »Die Kinder von Golzow« sprach, wird nach der Sommerpause eine eigene Reihe bekommen. Sie heißt »Literatur auf Celluloid« und soll Literatur und Kino verbinden. Eine Reihe »Literatur im Original« mit englischsprachigen Autoren hat bereits erste Freunde gefunden. Und der Humanistische Verband Deutschland hat seine Gesprächsreihe mit Angelika Neutschel aus dem benachbarten Café Sibylle in den Salon KMB verlegt.
Vier Veranstaltungen im Monat organisiert Vanessa Rémy, sechs bis acht sollen es nach der Sommerpause werden. Einen Rekord von 120 Gästen konnte der Salon verbuchen, als Reporter ohne Grenzen die »Fotos für die Pressefreiheit« präsentierten. Da wird man mutig. Übermütig? Rémy kann sich vorstellen, dass sich zusammen mit ihren Nachbarn eine Literaturmeile etabliert, die wieder Leben in die Karl-Marx-Allee bringt. Sie denkt dabei an das Café Sibylle, die Lesebühne von Jakob Hein, die jüngst aus der Torstraße in die Panorama-Lounge im Haus Berlin an den Strausberger Platz zog, und das Café Tasso am Frankfurter Tor. Rémy glaubt: »So eine Meile zieht Publikum.«
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Erster Julisamstag, Saharahitze, Badeseewetter. In der fast menschenleeren Allee soll der letzte Salon vor der Sommerpause im Zeichen Skandinaviens stehen. Ausgerechnet. Auf dem Platz vor der Buchhandlung sind ein paar Bänke aufgestellt, man will ein »Midsommar Fest« mit Kindern feiern. Vanessa Rémy und die Berliner Buchhandlung Pankebuch haben eingeladen zu Straßenkreidemalerei, Blumenkränzeflechten, Tanzen, Singen, Gurkenwassertrinken, Gemüsewaffelnessen - und Lesungen. Die Übersetzerin Elina Kritzokat liest aus dem lustigen Kindersachbuch der finnischen Autoren Sami Toivonen und Aino Havukainen »Tatu & Patu und ihr verrückter Kindergarten«. Später trägt Frida von Pankebuch Auszüge aus »Die Mumins - Eine drollige Gesellschaft« der schwedischen Autorin und Illustratorin Tove Jansson vor. Kaum mehr als eine Handvoll Kinder sind mit ihren Eltern gekommen. Sie lauschen gebannt.
Am Abend dann das »Midsommar Fest für Erwachsene«. Die Stuhlreihen füllen sich trotz des extremen Wetters doch noch, rund 70 Neugierige haben sich eingefunden. Nachdem eine Klangperformance der Audiodesignklasse der Hochschule der populären Künste an das Sibelius-Jahr erinnert hat, liest der Finne Juhani Seppovaara aus seinem mit dem Finnischen Buchpreis ausgezeichneten Bändchen »Unter dem Himmel Ostberlins«. »Viele glauben, dass das Leben in Ostberlin grau war«, sagt er. »Aber für mich war es genau das Gegenteil. Es war bunt und interessant.« Dafür bekommt er Beifall, vor allem von den schon etwas betagten Zuhörern.
Kann eine Literaturmeile mit dem Salon Karl-Marx-Buchhandlung die tote Allee wieder beleben? Absurderweise war es am Nachmittag zu einem sehr deutschen Zwischenfall gekommen. Das Ordnungsamt war aufgetaucht. Die Hüter der Ordnung erschienen zu dritt, ein Anwohner hatte sich beschwert und das Amt keine Genehmigung für eine »gewerbliche Nutzung des öffentlichen Raums« erteilt. Dass nur eine Handvoll Kinder still Blumenkränze gewunden hatten und der Veranstalter Cobblestone die schriftliche Versicherung des Vermieters vorlegte, es handele sich um privaten Raum, vermochte nicht zu überzeugen. Der Platz musste geräumt werden.
Vor einigen Tagen fragten wir Jakob Hein, was er von der Idee einer Literaturmeile hält. »Das ist erst mal eine Behauptung«, sagte er. Dann, nach kurzer Abwägung: »Naja, Feigheit hat immer Recht. Ich finde die Behauptung sympathisch.«
Weiter am 2. September www.karlmarxbuchhandlung.com
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