Einstein rettet Schrödingers Katze

Warum es in unserer Welt nicht ganz so verrückt zugeht wie im Quantenkosmos. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Niemand kann auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen, sagt ein deutsches Sprichwort. Für Menschen gilt das zweifellos, nicht aber - zumindest im Kern - für mikroskopisch kleine Teilchen wie Elektronen. Die können sehr wohl an zwei Orten zugleich sein, wie das Doppelspaltexperiment zeigt.

Man benutzt dafür eine Apparatur, die aus einer Blende mit zwei parallelen Spalten sowie einem Schirm zum Nachweis der Elektronen besteht. Nach klassischem Physikverständnis müsste ein einzelnes Elektron, das man durch den Doppelspalt schickt, entweder Spalt 1 oder Spalt 2 passieren. In Wirklichkeit geschieht jedoch etwas anderes. Denn jedes Elektron wird laut Quantentheorie von einer sogenannten Materiewelle begleitet, die durch beide Spalte läuft. Von diesen gehen daraufhin zwei Elementarwellen aus, die sich hinter der Blende überlagern. Das Elektron interferiert also gewissermaßen mit sich selbst. Allerdings »verschmiert« es dabei nicht, es geht vielmehr durch Spalt 1 und Spalt 2 gleichzeitig hindurch und trifft als vollständiges Teilchen auf den Schirm. Dort entsteht infolge der sich überlagernden Materiewellen ein Interferenzmuster, das man aber erst erkennt, wenn sehr viele Elektronen durch den Doppelspalt geflogen sind.

So mancher Krimifan könnte hier nun stutzig werden und fragen, ob in der Quantenwelt dann nicht der perfekte Mord möglich wäre. Denn ein Täter, der sich gleichzeitig am Tatort und weit entfernt davon aufhielte, hätte ein schwer zu knackendes Alibi. Nur leider gewährt ihm die Quantenmechanik diese Chance nicht. Um nämlich einen Mord zu begehen, müsste der Täter in Wechselwirkung mit dem Opfer treten und würde dadurch zwangsläufig seinen Aufenthaltsort verraten, wie die Physiker Tilman Pfau und Robert Löw betonen: »Ein Quanten-Sherlock-Holmes könnte also aufatmen, denn aus der quantenmechanischen Welle würde durch diese Wechselwirkung notwendigerweise wieder ein klassisches, ortsgebundenes Teilchen.«

Die Frage, wie sich räumlich verteilte Materiewellen plötzlich in lokalisierte Teilchen verwandeln und umgekehrt, beschäftigt Physiker schon seit Langem. Man könnte die Frage auch allgemeiner formulieren: Wie vollzieht sich der Übergang von der skurrilen Quanten- zur halbwegs geordneten klassischen Welt, und wodurch wird er veranlasst? Die Quantenmechanik selbst bietet dafür keine Lösung. Denn sie ist universell gültig und nicht auf die Beschreibung atomarer Teilchen beschränkt.

Ausgehend davon hat der österreichische Physiker Erwin Schrödinger 1935 ein Gedankenexperiment ersonnen, das als »Schrödingers Katze« heute weithin geläufig ist. Man sperrt dabei eine Katze in eine Kiste, mitsamt einer Apparatur, die beim Zerfall eines radioaktiven Atoms ein tödliches Gift freisetzt. Geschieht dies, stirbt die Katze. Ansonsten bleibt sie am Leben. Solange niemand weiß, ob der radioaktive Zerfall stattgefunden hat, gibt es aus quantenmechanischer Sicht nur die Möglichkeit, den Zustand des Atoms als Überlagerung (Superposition) der Zustände »zerfallen« und »nicht zerfallen« zu beschreiben. Müsste sich dann nicht auch die Katze in einem Überlagerungszustand befinden, also tot und lebendig zugleich sein? Denn erst wenn jemand die Kiste öffnen würde, wüsste er, was mit dem armen Tier wirklich los ist.

Inzwischen sind viele Physiker überzeugt, dass die Überlagerung von Zuständen, wie sie für Quantenteilchen typisch ist, bei so großen Objekten wie Katzen zerstört wird. Nach der sogenannten Dekohärenztheorie geschieht das durch die Wechselwirkung des Objekts mit seiner Umgebung. Hingegen würden völlig isolierte Dinge auch unabhängig von ihrer Größe Quanteneigenschaften zeigen. Da es aber praktisch unmöglich ist, große Objekte von den Störungen ihrer Umwelt abzukoppeln, finden wir sie immer im klassischen Zustand vor.

Ein Forscherteam um Časlav Brukner von der Universität Wien hat jetzt einen weiteren Mechanismus entdeckt, der Dekohärenz hervorrufen bzw. zum Auslöschen der Quanteneigenschaften führen kann: die gravitative Zeitdilatation. Diese folgt aus Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie und besagt, dass die Zeit in der Nähe von massiven Objekten langsamer vergeht. Folglich altern Menschen, die im Erdgeschoss eines Hauses wohnen, langsamer als ihre Nachbarn im ersten Stock - allerdings nur um etwa zehn Milliardstel Sekunden pro Jahr. Doch so winzig dieser Effekt auch ist, er reicht nach Auffassung der Forscher aus, um ein Quantensystem zu zerstören (»Nature Physics«; DOI: 10.1038/ nphys3366).

Angenommen, ein Molekül befindet sich in einer vertikalen Superposition über der Erdoberfläche, so dass der untere Zustand einem etwas stärkeren Gravitationsfeld ausgesetzt ist als der höher gelegene. Die gravitative Zeitdilatation sorgt nun dafür, dass das Molekül im unteren Zustand mit einer anderen Frequenz vibriert als im oberen. Im Endeffekt führt die Kopplung der Gravitations- und Quanteneffekte dazu, dass die Superposition zusammenbricht. Das geschieht bei einem Objekt von der Größe eines Mikrometers nach schätzungsweise einer tausendstel Sekunde. Diese Zahl bildet zugleich eine wesentliche Hürde für den experimentellen Nachweis des Effekts. Denn andere, etwa thermische Umwelteinflüsse zerstören die Überlagerungen viel schneller. Gleichwohl sind Brukner und seine Kollegen guter Hoffnung, dass sich im Experiment all jene störenden Einflüsse ausschalten lassen, nämlich dadurch, dass man die Messungen in einem Hochvakuum sowie bei Temperaturen knapp über den absoluten Nullpunkt durchführt.

Zwar sind noch lange nicht alle Probleme gelöst, die sich aus der Dekohärenztheorie ergeben. Dennoch liefert diese schon heute ein überzeugendes Argument für die von manchen Philosophen bezweifelte Realität der Außenwelt. Zur Begründung solcher Zweifel dient häufig eine subjektivistische Deutung der Quantenmechanik, wonach Mikroteilchen erst infolge eines von Menschen durchgeführten Beobachtungs- bzw. Messvorgangs gleichsam in Existenz gesetzt werden. Es ist jedoch die Natur selbst, die diesen Part übernimmt. »Quantenmechanische Überlagerungen werden von der Umwelt ununterbrochen gemessen«, erklärt der britische Physiker Marcus Chown. »Es braucht nur ein einziges Photon von einer solchen Überlagerung zurückzuprallen und Information über sie in die Umwelt zu tragen, und schon ist die Überlagerung dahin.« Damit nicht genug, sorgt auch die allgegenwärtige Gravitation dafür, dass kein größeres Objekt zur selben Zeit an zwei Orten sein kann. Ansonsten müsste ein Torwart beim Elfmeter gleichzeitig in verschiedene Richtungen fliegen, um überhaupt eine Chance zu haben, den Ball abzuwehren.

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