Unvergessliches Indonesien
Martin Leidenfrost über demente Niederländer und die Kolonialzeit als Erinnerungshilfe
Palmen, Buchten, Plantagen, dampfende Vegetation, ein Schwimmbad »Selecta«, weiße Kolonisten in weißen Kleidern: So stellten die niederländischen Kolonialherren Indonesien vor, in ihrem Fotoband »So leben wir in Indien«. Ich fand das Buch in einem Antiquariat des Regierungsviertels in Den Haag. 450 000 Niederländer haben indonesische Wurzeln; auch Geert Wilders, der rechtspopulistische Kämpfer gegen den Islam, wurde von einer Indonesierin geboren. Die Haager Antiquarin hatte den Politiker, der ein toupetähnlich gewelltes Blond auf dem Kopf trägt, kennengelernt. Ich fragte sie: »Warum hat Wilders so gelbe Haare?« - »Das ist seine Freiheit.«
Das Kolonialerbe der Niederlande stellte für mich ein absolut exotisches Thema dar. Dann aber stieß ich zufällig auf eine Zeitungsnotiz: Die Kunsthalle CODA bot einen »Rundgang für Menschen mit Demenz« an. Das Thema der Ausstellung: »Unvergessliches Indonesien«. Demenzkranke Niederländer, die sich im hohen Alter abmühen, sich an ihre koloniale Vergangenheit zu erinnern? Ich fuhr nach Apeldoorn.
Die Führung begann mit Kaffee und dem saftig-farbigen Kuchen »spekkoek«. Etwa 20 Personen fanden sich ein, viele offenbar Begleitpersonen. Es fiel nicht weiter auf, dass ich mitschrieb, auch eine Amsterdamer Dissertandin führte Protokoll. Da ich über Demenz nichts weiß, war mir bis zuletzt nicht vollkommen klar, welche unter uns genau die Demenzkranken waren. So scharwenzelte ein relativ junger Teilnehmer herum, dem ansteckend der Schalk aus den Augen blitzte. Er stimmte den alten Schlager an: »Surabaja, Surabaja, meine Gedanken sind allezeit bei dir. Warum musst ich dich verlassen? Einsam steh ich vor meinem Fenster …« Irgendwann während der ersten Bildbetrachtung verschwand er spurlos.
Durch unwilliges Geknurre fiel ein betagter Herr auf, ein hochgewachsener eleganter Patrizier. Seine Tochter erklärte ihm mehrfach, dass er wegen der »Malerei mit Indonesien« gekommen war. Dass er zwei Jahre als Soldat auf Sumatra gedient hatte, wusste er noch. Gebannt beobachtete ich die Gruppendynamik: einer von den 145 000 niederländischen Soldaten, welche die abspenstige Kolonie auch mit Gewalt nicht zurückzuerobern vermochten, zusammen mit ethnisch eindeutig indonesischstämmigen Senioren.
Die Führung wurde von Brenda gehalten, einer rothaarigen Radfahrerin mit nahtlos freundlicher Kindergarten-Intonierung. Bei Brenda war jede Antwort richtig. Worauf sind wir stolz? Kaffeebohnen, Kuhmilch, Anne Frank. Eine alte Indonesierin erzählte: »Einige, die nicht geflüchtet sind, haben es schlecht dort.« Eine andere: »Wir aßen aus Bananenblättern.« Der milde Diskurs über »cultuur, traditie, identiteit«, über »Leben in zwei Welten« nervte den hochgewachsenen Soldaten ungemein: »Ich hab’s auch gern warm. Aber ich bleibe hier.« Brenda - »ich lerne viel« - ließ über eine Halskette von Symbolwert reflektieren: »Ist die nicht schön?« Der alte Soldat knurrte: »Es gibt auch tausend andere schöne Sachen.« Langsam reichte es ihm. Er und seine Tochter wurden nicht mehr gesehen.
Als nächstes gab Brenda Gläser mit ostindischen Gewürzen durch. Boy, ein kleiner asiatischer Rollstuhlfahrer mit Beinprothese, wollte das Glas umgehend austrinken. Brenda nahm es ihm lächelnd weg. Einige Teilnehmer schwiegen durchgehend, die Senioren Henri und Anni peitschten einander aber spätestens ab dem ironisierenden Bildnis »Balimädchen« mit Interpretationen hoch. Besonders die Brillanz des Studienratstypen Henri verblüffte mich. Er durchschaute als einziger das komplexe kubistische Großgemälde »Familiengeschichte«: »Hm, er hat den Kopf geschluckt. Uj, was hat das für eine Bedeutung? Westler und Javaner?« Brenda bestätigte.
Am Ende teilte Brenda Plastiktüten aus: »Was werden Sie in den Tüten mitnehmen?« Nach der schlechten Erfahrung mit dem Gewürz von vorhin wollte Boy keine Tüte haben. Henri rief exaltiert: »Von all den verlorenen Liebchen die Locken nehm ich mit.« Ich fragte mich, was an diesem Henri dement sein sollte. Im nächsten Moment räumte er ein, dass er vergessen hatte, worum ihn seine Kinder vor der Ausstellung gebeten hatten. Eine alte Holländerin sagte, sie würde Nabelschnüre in die Tüten tun, das sei in ihrer Familie Tradition. Brenda reagierte gerührt: »Auch ich habe von meinen beiden Kindern ein Stück Nabelschnur aufbewahrt. Oh, das ist sehr schön.«
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