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Comeback für Einsteins Gespenster
US-Forscher fanden Schlupfloch für verborgene Variablen in der Quantentheorie
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Physikgeschichte, dass Albert Einstein, der in jungen Jahren ein glühender Anhänger der Quantenhypothese war, später die statistischen Konsequenzen der Quantenmechanik mit Entschiedenheit ablehnte. Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass für die Bewegung eines Elektrons im Atom weniger exakte Gesetze gelten sollten als etwa für die Bewegung einer Billardkugel. Das freilich heißt nicht, dass Einstein die Quantenmechanik für falsch hielt. Er hielt sie lediglich für unvollständig und glaubte mithin an die Existenz einer verborgenen Schicht der Realität, in der alles streng deterministisch ablaufe. Damit widersprach er vor allem seinem Kollegen Niels Bohr, der von der Vollständigkeit der Quantenmechanik ebenso überzeugt war wie von der Unzulänglichkeit der klassischen Begriffe und Gesetze in der Mikrowelt. Da Bohr zumeist in Kopenhagen lehrte, bezeichnet man seine Sichtweise auch als Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik.
Die meisten Physiker stehen heute, was den erkenntnistheoretischen Status der Quantenmechanik betrifft, auf der Seite Bohrs und damit gegen Einstein. Denn für die Existenz einer verborgenen Realität, die sich mittels entsprechender Variablen beschreiben lässt, gibt es keine experimentellen Anhaltspunkte. Doch nun wollen Karl Hess und Walter Philipp von der University of Illinois theoretische Hinweise dafür gefunden haben, dass Einstein zurecht skeptisch war. Wie sie in der jüngsten Ausgabe der »Proceedings of the National Academy of Sciences USA« (Bd. 98, S. 14224ff.) schreiben, hätten die Physiker eine wichtige Klasse Variablen übersehen, die selbst dem berühmten Einstein-Podolsky-Rosen (EPR)-Experiment eine durchaus anschauliche Deutung geben würden.
Was hat es mit diesem Experiment auf sich? Da Bohr hartnäckig dabei blieb, dass die Quantenmechanik eine vollständige Theorie sei, dachten Einstein und seine Mitarbeiter Boris Podolsky und Nathan Rosen sich 1935 eine raffinierte Versuchsanordnung aus, mit deren Hilfe sie die Kopenhagener Deutung endgültig ad absurdum führen wollten. Um den Grundgedanken dieses Experiments zu veranschaulichen, betrachten wir zunächst zwei Tennisbälle, die gleichzeitig in entgegengesetzter Richtung abgefeuert werden. Dabei soll der eine Ball eine Linksdrehung, der andere eine Rechtsdrehung mit auf seinen Flugweg bekommen. Nachdem beide Bälle meilenweit geflogen sind, nimmt ein Tennisspieler den ersten Ball an und versetzt ihm eine Rechtsdrehung. Könnten Sie sich nun vorstellen, dass daraufhin auch der zweite Ball sofort seine Drehrichtung ändert, ohne dass jemand ihn auch nur berührt hat? Unmöglich, werden Sie zurecht sagen. Was aber geschieht, wenn wir statt der Tennisbälle Elektronen und statt des Schlägers einen Magneten verwenden? Auch Elektronen kreisen, vereinfacht gesagt, um ihre eigene Achse. Sie haben einen Spin, der sich mit Hilfe eines Magneten messen bzw. verändern lässt. Die Quantenmechanik sagt für ein solches Experiment voraus: Hat zwischen den beiden Elektronen vor dem Abschuss eine Wechselwirkung bestanden, dann reagiert auch später jedes Teilchen augenblicklich auf die Spinänderung des anderen, ganz egal, wie weit beide voneinander entfernt sind.
Für Einstein war diese Situation unannehmbar. Denn wie sollte das eine Elektron auf die Veränderung des anderen unverzüglich reagieren können, wenn beide nicht mit unendlicher Geschwindigkeit Informationen austauschten? Andererseits ist laut Relativitätstheorie eine solche »geisterhafte Fernwirkung« verboten. Die beiden Ereignisse müssen folglich in einem anderen Zusammenhang stehen, der entweder einen ganzheitlichen Begriff von Realität verlangt, wie Bohr meinte, oder durch verborgene Variablen »lokal-realistisch« vermittelt wird, wie Einstein hoffte.
Obwohl das Ganze nur ein Gedankenspiel war, suchten viele Physiker nach einer realen experimentellen Entscheidung. 1964 konnte der irische Physiker John S. Bell den mathematischen Nachweis erbringen, dass verborgene Variablen durchaus beobachtbare Effekte hervorzurufen vermögen. Bei seinen Berechnungen ging er jedoch nicht von einem einzelnen Elektronenpaar aus, sondern studierte die Korrelationen zwischen unterschiedlich polarisierten Photonen. Dabei stieß er auf eine Ungleichung, die eine erstaunlich präzise Vorhersage erlaubt: Sind die Teilchen im EPR-Experiment nicht durch überlichtschnelle Informationen miteinander verbunden, können verborgene Variablen nur dann existieren, wenn die gemessenen Korrelationen einen gewissen Grenzwert nicht überschreiten.
Es war der französische Physiker Alain Aspect, dem 1982 in Paris zum ersten Mal das beschriebene EPR-Experiment glückte. Mit dem Ergebnis, dass die Korrelationen nicht unter, sondern über dem Grenzwert lagen, und zwar exakt um jenen Betrag, den Bohr und die »Kopenhagener« zuvor errechnet hatten. Das heißt: Haben zwei Teilchen einmal in physikalischer Wechselwirkung gestanden, bleiben sie für alle Zeiten miteinander verbunden, und zwar nicht über direkte Verknüpfungen, sondern lediglich über indirekte Korrelationen.
Wie sich leicht denken lässt, waren auch viele Parapsychologen von diesem Resultat entzückt, da sie darin einen Beweis für die »atomare Telepathie« erblickten. Doch wie bereits Einstein richtig vermutet hatte, wird zwischen EPR-Teilchen keinerlei Information ausgetauscht. Dass überhaupt eine geisterhafte Fernwirkung stattgefunden hat, bemerkt man erst, wenn das Experiment beendet ist und die Ergebnisse auf beiden Seiten miteinander verglichen werden. Generell taugt die Quantenmechanik nicht zur Stützung der Parapsychologie, sie würde vielmehr in sich zusammenfallen, wenn es so etwas wie eine atomare Telepathie gäbe.
Eine ganz andere Frage ist die nach der letzten Gültigkeit der Kopenhagener Deutung. Hess und Philipp jedenfalls meinen: »EPR-Experimente schließen die Existenz von verborgenen Variablen nicht zwingend aus.« Denn sobald diese Variablen zeitabhängig seien, gelte die Bellsche Theorie nicht mehr und die Voraussagen der Experimente veränderten sich. Ein Beispiel: Die Zeiten, die Uhren in New York und London anzeigen, sind zweifellos miteinander korreliert, ohne dass die Zeiger sich gegenseitig beeinflussen. Würden verborgene Variablen auf ähnliche Weise korrelieren, dann, so die beiden Forscher, hätten wir keine geisterhaften Fernwirkungen mehr nötig, um das EPR-Experiment zu erklären. Leider weiß niemand, ob solche Variablen überhaupt existieren. Und solange das so ist, besteht kein Anlass, die Kopenhagener Deutung zu korrigieren, die sich b...
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