Die Stadt Smila und der IWF
»Wirtschaftsreformen« lassen in der Ukraine die Menschen verarmen
Faserige Wohnblöcke, Minibusse und Menschen, die auf Bänken etwas Ruhe finden. Auf dem zentralen Platz aufgestellte Fotos sind mit Bändern in den nationalen Farben Gelb und Blau eingewickelt. Die Porträts stellen junge Bewohner der Stadt dar, die ihr Leben in den Kämpfen um den Donbass verloren haben.
Smila ist eine typische Provinzstadt im ukrainischen Kernland. Sie befindet sich nicht weit entfernt vom Dnepr. Der drittgrößte Fluss Europas fließt von Nord nach Süd durch das vom Krieg heimgesuchte Land. Außer mit dem Tod der jungen Männer zahlt Smila auch noch einen anderen Preis für die Großmachtkonfrontation zwischen Russland und dem Westen, für den Stellvertreterkrieg in der Ukraine, der die Folge davon ist. Unter der Bezeichnung »Wirtschaftsreformen« lässt die Politik des Internationale Währungsfonds (IWF), die von den USA und der EU unterstützt wird, die Bewohner des Landes verarmen.
»Eine Wirtschaftskrise hat die Ukraine mit voller Kraft getroffen und die Bevölkerung leidet schwer darunter. Der durchschnittliche Lohn beträgt nur 165 Euro im Monat und eine galoppierende Inflation dezimiert die Kaufkraft der einfachen Menschen«, sagt Josh Cohen. Er beschäftigt sich mit der Krise in der Ukraine für eine Reihe von internationalen Abnehmern wie die Agentur Reuters, die Zeitschrift »Foreign Policy« und die Tageszeitung »Moscow Times«.
»Dass die Inflation gestiegen ist, hängt mit dem IWF-Programm so zusammen: Der Währungsfonds verlangt, dass die ukrainische Regierung für die Verbraucher dramatische Steigerungen der Preise für Gas und Strom einführt. Aber wenn ähnliche Steigerungen der Gehälter nicht folgen, haben die Einwohner weniger Geld in den Taschen. Darüber hinaus wurden die Renten im Rahmen des IWF-Programmes eingefroren. Wenn die Inflation gleichzeitig wächst führt das zu niedrigeren Reallöhnen«, erläutert Cohen.
Der IWF stellt seine Forderungen an die ukrainische Regierung als Bedingung für die Bereitstellung von Milliardenkrediten. Die aber verschwinden zumeist aus dem Land. Sie decken die Verluste ausländischer Investoren, die auf ukrainische Staatsanleihen spekuliert haben. »Kein Geld von dem Internationalen Währungsfonds soll verwendet werden, um Schulden der Ukraine bei ausländischen Gläubigern zurückzuzahlen«, sagt er.
Natalja Ostrowskaja ist eine Einwohnerin von Smila, die die Auswirkungen der Politik des IWF in der Ukraine am eigenen Leib erfährt. Die 61-jährige Frau sitzt mit einer Freundin vor dem Plattenbau, in dem sie wohnt. Frau Ostrowskaja leidet an schwerer Epilepsie und erhält Invalidenrente vom Staat. Sie beträgt umgerechnet rund 39 Euro pro Monat. »Das ist natürlich sehr wenig. Man kann es kaum Geld nennen«, sagt sie. Mehr als die Hälfte dieses Betrages muss sie schon für ihre Einzimmerwohnung bezahlen.
Für die Invalidenrentnerin wird es immer schwieriger, sich Waren des täglichen Bedarfs zu leisten. Dazu gehören jene lebenswichtigen Medikamente, die sie gegen die Epilepsie nehmen muss. »Medizin, Lebensmittel, Gas, Strom - alles ist teurer geworden«, sagt sie. »Ich habe keine Datscha, wo ich mein eigenes Gemüse anbauen könnte, ich habe nichts. Wie ich überlebe? Meine Nachbarn helfen mir. Sie sind gute Menschen.«
An einem Kiosk in der Leninstraße sammeln sich mehrere Einwohner. Unter anderem kann man hier kalte Getränke kaufen. Über dem Regal mit Süßigkeiten ist ein neues Werbeschild für Produkte des Schokoladenimperiums »Roshen« angebracht. Das Unternehmen gehört zu dem Konglomerat des Oligarchen und Präsidenten Petro Poroschenko. Seine riesigen Geschäfte scheinen seit dem Amtsantritt im Mai 2014 noch mehr Wind in den Segeln zu haben.
Überall in der Ukraine sprießen neue »Roshen«-Konzeptläden mit schön gestalteten Logos. Poroschenko versprach, seine Firmen zu verkaufen, bevor er gewählt wurde. Denn gemäß Artikel 103 der ukrainischen Verfassung ist es illegal, Geschäfte zu betreiben und gleichzeitig Präsident zu sein. Dieses Versprechen hat er jedoch nicht gehalten. Dafür aber hat sich Poroschenko mehr als bereit erklärt, die so genannten Wirtschaftsreformen, die die EU und die USA vermittels des IWF fordern, durchzuführen. Das Programm trifft durchschnittliche Ukrainer hart, aber es erleichtert zugleich das Leben und Tun eines Geschäftsmannes. Einem IWF-Pressebericht ist zu entnehmen, dass es ein »zentrales Element des Programms« sei, das »Geschäftsklima zu stärken«.
Am anderen Ende der Hauptstraße vertreibt sich in einem kleinen Park der 28-jährige Dmytro Moskowtschenko die Zeit. Der junge Mann musste sein Studium als Manager abbrechen. Er arbeitete als Lagerarbeiter und Verkäufer, ist aber jetzt arbeitslos. Umgerechnet 20 Euro pro Monat beträgt die Unterstützung, die Dmytro vom Staat erhält. Der Betrag reicht nicht weit. »Für das Geld kann ich nicht einmal meine monatlichen Fixkosten begleichen. Meine Eltern helfen mir,« sagt er.
Laut Dmytro Moskowtschenko hat sich der Gaspreis mindesten verdreifacht, seit der IWF im April 2014 das erste Hilfsprogramm für die Ukraine bereitstellte. Das Gas wird zum Kochen und Heizen verwendet. Niemand kann darauf in den strengen ukrainischen Wintern verzichten, es ist lebensnotwendig. Wegen der IWF-Auflagen ist es in der Ukraine nicht mehr ungewöhnlich, dass das ganze Monatsgehalt einer Familie für die Bezahlung der Gasrechnung ausgegeben werden muss.
»Gas und Strom braucht jeder. Es besteht ein Monopol, also können die Politiker die Preise erhöhen, wie sie wollen«, sagt Dmytro. Wie viele andere Bürger der kleinen Stadt Smila macht er sich keine Illusionen über die stramm prowestlich ausgerichtete Regierung in Kiew. »Ich bin weder Optimist noch Pessimist, sondern eher ein Realist. Die Menschen hier leben ihr Leben und versuchen, so gut wie möglich durchzukommen«, sagt er.
Finanzministerin Natalja Jaresko versucht seit Monaten, Druck auf die Gläubiger der Ukraine auszuüben - ausländische Investmentgesellschaften, die ukrainische Anleihen im Wert von Milliarden von Dollar besitzen. Jaresko will, dass die Gläubiger, vor allem die amerikanische Franklin Templeton Investments, ihren Griff um die Ukraine, die eines der ärmsten Länder Europas ist, lösen. Die Spekulanten sollen laut Jaresko einen Teil des Schmerzes der ukrainischen Bevölkerung mildern, indem sie schlechtere Bedingungen für ihre Anleihen akzeptieren. »Internationale Gläubiger könnten der Ukraine deutlich helfen, wenn sie einer Kombination aus niedrigeren Zinsen und längeren Zahlungsfristen zustimmen würden«, unterstützt Cohen ihr Vorhaben.
Bisher lehnt es die von Franklin Templeton geleitete Investorengruppe jedoch ab, eine konstruktive Rolle bei der Gestaltung der Zukunft der Ukraine zu spielen. Wenn die Gläubiger nicht zu einem Einlenken bei ihren Bedingungen sind, sieht die Zukunft des Landes düster aus. Josh Cohen unterstreicht, dass die IWF-Politik unangemessen sei. Sie diene mehr den Interessen der Spekulanten, als denen der ukrainischen Bevölkerung: »Die Regierung in Kiew kürzt bei den Sozialleistungen schmerzhaft in einer Größenordnung von 26 Milliarden Euro. So wie es der IWF wünscht. Derzeit sind zehn Prozent der Ukrainer arbeitslos. Wenn aber die Erfahrungen der Wirtschaftskrise in Griechenland als Maßstab dienen, könnten sich die Arbeitslosigkeit ebenso wie die Armut leicht verdoppeln.«
Cohen zufolge spielt der Global Portfolia Manager Michael Hasenstab von Franklin Templeton eine zentrale Rolle für die Zukunft der Ukraine. Er leitet eine Gruppe von Spekulanten*, die gemeinsam acht Milliarden Euro der ukrainischen Staatsanleihen besitzen. Mit den amerikanischen Investmentgesellschaften T. Rowe Price und TCW Group sowie der brasilianischen BTG Pactual versucht er alles zu tun, um Verluste zu vermeiden.
Währenddessen geht in Smila das Leben irgendwie weiter.
* Anteilseigner wollten keine Fragen für diesen Artikel beantworten.
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