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Auf dem Weg zur »guten Adresse«

Der Stadtteil Lokstedt hatte in Hamburg einen durchwachsenen Ruf - das ändert sich

  • Folke Havekost, Hamburg
  • Lesedauer: 4 Min.
Grüne Oase, Maklertraum oder Durchfahrtsstadtteil? Der Hamburger Stadtteil Lokstedt ist nur fünf Quadratkilometer groß, hat aber viele Seiten. Und er verändert sich rasant, was nicht jedem gefällt.

Der Lenz war auch in Lokstedt schon lange da, aber Veronika fehlt immer noch: Ein Wasserschaden hat den Verein Lenzsiedlung e.V. dazu gezwungen, das Café Veronika im Süden des Hamburger Stadtteils zu schließen. Die Zukunft ist unklar; um die Übernahme der Renovierungskosten wird gestritten. »Um zwischen der Lenzsiedlung und den schickeren Teilen Lokstedts Brücken zu bauen, war das Café Gold wert«, bedauert Ralf Helling, Geschäftsführer des 1977 gegründeten Vereins, der sich um die Attraktivität der Plattenbausiedlung bemüht.

Gut 3000 Menschen wohnen in den zwischen 1976 und 1984 errichteten Häusern mit bis zu 13 Stockwerken. »Es gibt nach wie vor Vorbehalte wegen der architektonischen Besonderheiten«, räumt Helling ein. Vor dem Café in der Julius-Vosseler-Straße parken mehrere NDR-Fahrzeuge, der Sender dreht gerade für einen »Tatort«. Kamerafahrten über Hochhaussiedlungen liefern bewährte Bilder.

Rund 30 Prozent der Bewohner sind auf Transferleistungen angewiesen, für sie sind die günstigen Mieten zwischen fünf und sechs Euro pro Quadratmeter besonders wichtig. Die meisten Wohnungen gehören der SAGA GWG, doch 2017 läuft in den ersten Häusern die Mietpreisbindung aus. Das könnte die Gentrifizierung auch in diesem Teil Lokstedts befördern. Denn der lange unterschätzte Stadtteil ist auf dem Weg, zur »guten Adresse« zu werden. Immerhin liegt der Norden Eimsbüttels mit der attraktiven Osterstraße nur wenige Schritte entfernt.

Wenige hundert Meter östlich beginnt ein anderes Lokstedt. Am Veilchenweg und Grandweg sind auf dem Areal der ehemaligen Hans-Heinrich-Sievert-Kampfbahn gut 1000 Eigentumswohnungen mit Quadratmeterpreisen von 4000 Euro aufwärts entstanden. Die Projekte »Parkside Lokstedt« und »Stadtgärten Lokstedt« setzen auf großzügige Innenhöfe, Tiefgarage inklusive. Gerade liefert ein Kleinlaster eine neue Küche an.

Die rege Neubautätigkeit hat die Einwohnerzahl des Stadtteils auf fünf Quadratkilometern bereits von 24 000 auf 28 000 erhöht. Die relative Citynähe und der verbliebene grüne Dorfcharakter an manchen Ecken Lokstedts ergeben für viele eine reizvolle Mischung.

»Durch die Neubebauung wird es mir zu eng«, klagt dagegen Ursula Erdmann. Die ältere Dame spaziert durch den Schreberverein Maiglöckchen und erzählt, sie würde am liebsten wegziehen: »Man fühlt sich auf den Fußwegen inzwischen völlig unsicher, weil sie auch von Fahrrädern genutzt werden.« Erdmann wohnt in der Stresemannallee, wo sich noch das alte Lokstedt zeigt, in dem Einfamilienhäuser das Bild prägen. Ein »Edeka«-Markt bietet eine der seltenen Einkaufsmöglichkeiten, denn Geschäfte für den täglichen Bedarf sind in dem grünen Wohnstadtteil die Ausnahme.

Hinter den Maiglöckchen-Kleingärten geht es zu einem unscheinbaren Streitobjekt: Die Max-Tau-Wiese, ein Grünstreifen in einer kleinen Siedlung. Meisen flattern herum, über den Bäumen melden sich im Viertelstundentakt Flugzeuge mit ihrem Lärm. Nach dem Bebauungsplan Lokstedt 50 soll hier ein Kunstrasen-Bolzplatz für Kinder entstehen. Der Widerstand dagegen eint die Bewohner und den Naturschutzbund, der vor einem »gravierenden Eingriff in die naturbelassene Grünanlage« warnt. »Die Kinder wollen doch viel lieber in der Natur spielen«, plädiert eine Anwohnerin gegen das Fußballfeld aus Plastik. Nördlich dieses Idylls tobt - zumindest für Lokstedter Verhältnisse - das laute Leben: Hagenbecks Tierpark, das NDR-Gelände und der Verkehrsknotenpunkt Siemersplatz. Alle Pläne, dort - oder am nahen Behrmannplatz - eine Art Zentrum mit Wohnhäusern, Gastronomie und Einkaufsgelegenheiten zu schaffen, scheinen schon angesichts des Dauerverkehrs zum Scheitern verurteilt. Mehr als 150 000 Autos passieren den Siemersplatz an Werktagen. »Das ist der Autobahnzubringer, wollen Sie da wohnen?«, fragt Ursula Erdmann spitz.

Der Feinkostladen Behrmann hat wegen der jahrelangen Bauarbeiten in Sachen Busbeschleunigung am Siemersplatz kapituliert. An Stelle des Traditionsgeschäfts bietet jetzt »Feuer und Flamme« Kaminöfen an. »Hier war auch 30 Jahre lang ein Schuster«, erzählt Gerhard Lickfett, der mit seinem Fahrrad gerade zur Bäckerei gefahren ist: »Jetzt kommen mehr und mehr Geschäfte, in denen Sie sich die Fingernägel machen lassen können.«

Der pensionierte Segelschiffkapitän wohnt seit 1973 in der Nähe der evangelischen Kirche. Trotz des Wandels weiß Lickfett den Stadtteil zu schätzen. »Ich kenne Lokstedt als Paradies«, sagt er mit dem Pathos des Seebären: »Viele Kapitäne, die sich ein Haus auf der grünen Wiese gekauft haben, beneiden mich. Es gibt sieben Ärzte, zu denen ich zu Fuß gehen kann. Und in 20 Minuten ist man am Flughafen oder sitzt im ICE.«

Grüne Oase, Maklertraum oder Durchfahrtsstadtteil - das kleine Lokstedt hat viele Gesichter. »Der Stadtteil befindet sich ziemlich im Wandel«, sagt Lenzsiedlungs-Geschäftsführer Ralf Helling: »Da gibt es noch keine fertigen Antworten.«

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