»Um die Russen niederzuhalten ...«
Von der ersten Explosion bis zum Abwurf der Atombombe über Hiroshima
Der 16. Juli 1945 ist ein Montag - ein Montag, der die Welt verändern sollte. Zur Zeit der Morgendämmerung ist der Himmel bewölkt. Es beginnt der Countdown für die Explosion der ersten Atombombe der Welt. Um 5 Uhr 29 Minuten und 45 Sekunden ist es soweit, »Trinity« ist explodiert. Ein Fotograf notiert: »Im ersten Stadium der Explosion kommt es zu einem ungeheuer grellen Lichtblitz, und dann bildet sich ein Feuerball, der zu einer immensen Kugel aus weißglühendem Material wird. Das ist das Bild, das mir stärker in Erinnerung geblieben ist als die Staubwolke, die sich anschließend bildet.« Und General Leslie R. Groves, der militärische Leiter des Atombombenprojekts, schreibt in sein Tagebuch: »Das starke, andauernde, schauerliche Grollen war eine Warnung vor dem Jüngsten Gericht und ließ uns spüren, daß wir winzige Wesen gotteslästerlich handelten, weil wir es wagten, mit Kräften zu spielen, die bisher dem Allmächtigen vorbehalten waren.«
Genutzt hat dieser Zweifel wenig. Noch am selben 16. Juli 1945 verlässt der US-Kreuzer »Indianapolis« San Francisco. Sein Ziel: Die Insel Tinian, die der US-Luftwaffe als Stützpunkt für die Bombardierung Japans dient. Das Kriegsschiff hat einen Bleizylinder an Bord. Er enthält das radioaktive Inventar für jene zweite Atombombe, die 20 Tage später, am 6. August 1945, die japanische Stadt Hiroshima zerstören und 70 000 Menschen auf der Stelle töten wird.
Das Spiel mit einer Kraft, die laut General Groves zuvor Gott vorbehalten war, hatte zweieinhalb Jahren zuvor begonnen: am 2. Dezember 1942, als in einer Halle unter der Westtribüne des Universitätsstadions von Chicago, »Chicago Pile 1«, der erste Atomreaktor der Welt, angefahren wird. Leiter des Projektes ist der Nobelpreisträger Enrico Fermi. Um 9 Uhr 45 ordnet er an, die Steuerstäbe aus Bor und Cadmium aus dem Reaktor zu ziehen, mit denen ein verfrühter Beginn der Kettenreaktion verhindert werden soll. Um 15 Uhr 30 ist klar: Der Reaktor ist angefahren, das atomare Feuer entfacht. Fermi sagt: »Es ist geglückt. Ja, es ist geglückt.« Man öffnet eine Flasche Chianti und trinkt den Wein aus Pappbechern, auf denen man zur Erinnerung den eigenen Namen und das Datum notiert. Niemand dachte damals an künftige Energieerzeugung oder billigen Atomstrom. Es ging um eine »Superwaffe«, mit der der Krieg gegen Deutschland und Japan gewonnen werden sollte - und um nichts anderes!
Das Projekt für den Bau dieser Waffe wurde später als »Manhattan Project« bezeichnet. Es trug gigantische Züge: Drei geheime Städte wurden errichtet, in denen 150 000 Menschen wohnten. 39 Forschungseinrichtungen und Fabriken beschäftigten 40 000 Mitarbeiter; das Gesamtbudget belief sich auf 2,2 Milliarden US-Dollar. Einigen Wissenschaftlern kamen freilich Zweifel. Niels Bohr beklagte schon im Juli 1944 in einem Memorandum an Präsident Roosevelt »die grauenerregende Aussicht auf eine Zukunft, in der sich die Nationen um diese furchtbare Waffe streiten werden.« Bohrs Kollege Leo Szilard suchte nach der Kapitulation Deutschlands den US-Kriegsminister James Byrnes auf, um ihn zu überzeugen, dass der Einsatz der neuen Superwaffe gegen das faktisch bereits besiegte Japan ethisch fragwürdig sei. Doch Byrnes hörte nicht auf ihn. In Szilards Gedächtnisprotokoll heißt es: »Byrnes war besorgt über Russlands Betragen nach dem Krieg. Russische Truppen hatten Ungarn und Rumänien besetzt, und Byrnes glaubte, dass es schwierig sein würde, Russland zu überreden, seine Truppen aus diesen Ländern abzuziehen...« Ähnlich hatte sich General Groves schon im März 1944 dem britischem Chemiker Joseph Rotblat, gegenüber geäußert: »Ihnen ist natürlich klar, dass der wirkliche Zweck der Bombe der ist, unseren Hauptfeind, die Russen, niederzuhalten.«
Der erste Atomtest vom Juli 1945 und die Kriegsverbrechen der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki wenig später waren also auch der Beginn des »Kalten Krieges«. US-Präsident Truman, der auf der Potsdamer Konferenz von dem gelungenen Atombombentest erfährt, wendet sich rund eine Woche später, am 24. Juli, an Josef Stalin und teilt ihm mit, die USA verfügten über eine neue Waffe von ungewöhnlicher Zerstörungskraft. Stalin, durch den Atomspion Klaus Fuchs über das »Manhattan-Project« gut unterrichtet, erwidert, er freue sich, das zu hören und er hoffe, die USA machten guten Gebrauch davon. Wenig später, am 11. September 1945, »flüstert« der sowjetische Außenminister auf einer Konferenz in London seinem US-Kollegen, für alle Anwesenden deutlich hörbar, zu: »Wissen Sie, wir haben die Atombombe auch.«
Heute befinden sich nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstitutes SIPRI (Juni 2015) 15 850 Atomwaffen im Besitz von neun Staaten.
Unser Autor, Sohn des Friedensgenerals Gert Bastian, war westdeutscher Geschäftsführer der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, die 1985 den Friedensnobelpreis erhielten.
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