Ausnahmezustand
Das kaum Fassbare von Hajo Funke auf den Punkt gebracht: »Staatsaffäre NSU«
Man trifft ihn fast überall, wo das Thema Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) aufgerufen wird: in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, auf Foren, an Tat- und Wohnorten der Beschuldigten. Der Mann befragt Zeugen, debattiert mit Journalisten, plaudert mit Ministeriellen. Letztere mögen in ihm den interessierten, doch bisweilen ein wenig naiven Professor sehen. Sehr zu unrecht! Hajo Funke beherrscht ein wichtiges Moment solider Recherche - das freundliche Zuhören. Wer dem Herrn im zumeist unauffälligen Anzug häufiger bei seinen Recherchetouren begegnete, dem war klar: Irgendwann muss alles raus. Das Irgendwann ist jetzt. Funke schrieb, unterstützt von Ralph Gabriel, ein Buch, die »Staatsaffäre NSU«.
Es gibt inzwischen einige Bücher zum »Phänomen« NSU. Gute, erhellende. Und überflüssige; andere sind nicht einmal das. Die »Staatsaffäre« ist eine wichtig Drucksache, weil sie eine Analyse des Rechtsstaates versucht und damit sachlich einen Skandal beschreibt. Die dargestellten Fakten zu den zehn Morden, den Bombenanschlägen und Banküberfällen, die die Bundesanwaltschaft dem NSU-Trio Uwe Böhnhard, Uwe Mundlos und der in München angeklagten Beate Zschäpe vorwirft, sind rasch zu überfliegen für denjenigen, der sich seit dem Auffliegen der Nazitruppe 2011 mit diesem Abschnitt Rechtsterrorismus befasst. Seither wird immer deutlicher, dass Behörden lügen, betrügen, fälschen, kurz, dass vor allem der Verfassungsschutz tief involviert ist in die Neonazi-Szene und dass insbesondere das BKA sowie die Bundesanwaltschaft mit System schlampig ermitteln. Anders als die Anklage behauptet, sind das Trio und die paar angeklagten Typen aus deren Umgebung Teil eines bundesweit wie international agierenden Netzwerkes. Funke spricht vom NSU-Komplex. An dessen Fortexistenz kann kein Zweifel sein.
In einigen Details mag man Widerspruch zu Funkes Darstellung anmelden, doch das ist selten und vom Autor ja beabsichtigt. Er will nichts Abschließendes vermelden, er will zu neuen Erkenntnissen führen. Denn die meisten bislang bekannten Fakten und Indizien müssen ohne einen letzten Beweis auskommen. Das hat seinen Grund in der Blockade der Untersuchungen durch die für innere Sicherheit Zuständigen. In Ländern wie im Bund. Und das vor allem ist Funkes Thema. Da kennt er sich aus, denn Demokratiedefizite, die Rechtsextremismus und Antisemitismus Raum bieten, waren stets das vorherrschende Thema des Politikwissenschaftlers, der an der Berliner Freien Universität geforscht und gelehrt hat.
Funke saß als Zuhörer im Saal des Bundestagsuntersuchungsausschusses, als der damalige Staatssekretär im Innenministerium Klaus-Dieter Fritsche das uneingeschränkte Aufklärungsversprechen, das die Kanzlerin den Hinterbliebenen der NSU-Opfer gegeben hat, kassierte. Fritsches Auftritt war in der Form korrekt - und so unbeschreiblich unverschämt. Der Beamte mit CSU-Parteibuch beschnitt den mit der Untersuchung beauftragten Volksvertretern ihre Rechte und verkündete zusammengefasst: Was ihr erfahren dürft, das bestimmen wir! Wir? Der Apparat. Der Staat. Und Fritsche als Staat im Staate.
Bei der Ansage ist es im Wesentlichen geblieben. Nicht nur in Sachen NSU. Auch wenn es jetzt um die Aufklärung der Kumpanei zwischen BND und NSA geht, also um massenhafte Verletzung von Bürgerrechten. An der ist Fritsche inzwischen als Staatssekretär in Merkels Kanzleramt beteiligt, in dem er als Beauftragter für die Nachrichtendienste weiter darüber entscheidet, was mit »Staatswohl« gemeint ist. Nicht teilbares Herrschaftswissen.
»Ein solches Denken«, so schreibt Funke, »folgt einer autoritären Staats-Philosophie in der Tradition von Hobbes, Machiavelli und Carl Schmitt: ›Souverän ist der, der über den Ausnahmezustand verfügt.‹« Schmitt wird nicht umsonst als »Kronjurist des Dritten Reiches« bezeichnet und Funke merkt an, dass sich die deutschen Geheimdienste aus Sicht der Sicherheitsexekutive und hinsichtlich ihrer Kontrollierbarkeit genau in so einem »Ausnahmezustand« sehen.
Das über 400 Seiten starke Buch über einen »sich selbst verstärkenden Skandal« kann, muss aber nicht in einem Stück studiert werden. Kapitelweise kann man sich vortasten und wird - wie der Autor - gewiss zu der Ansicht kommen, dass wesentliche Fragen der »Staatsaffäre NSU« noch unbeantwortet sind. Weshalb notwendige Konsequenzen ausstehen. Einige benennt Funke und damit zugleich Reformnotwendigkeiten sowie Zielsetzungen weiterer parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Man wird den Autor dieser »offenen Untersuchung« dort treffen.
Hajo Funke: Staatsaffäre NSU - eine offene Untersuchung erscheint im Kontur-Verlag, Münster: 20,00 Euro
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