44 000 Aktenseiten und kein Prozess
Die Tragödie bei der Duisburger Loveparade ist jetzt fünf Jahre her - lückenlose Aufklärung fand bisher nicht statt
Als bei der Loveparade in Duisburg (Nordrhein-Westfalen) vor fünf Jahren eine Rampe zum Festgelände zur tödlichen Falle wird, ändert sich das Leben Hunderter Familien auf einen Schlag. 21 Menschen sterben im Gedränge, mehr als 500 werden verletzt. Viele Betroffene leiden immer noch dramatisch unter den Folgen der Katastrophe, wie Jörn Teich von der Initiative »LoPa 2010« berichtet. »Ich kenne Leute, die nach wie vor ganz tief in Depressionen fallen.« Aus seiner Sicht ist vor allem die psychologische Langzeit-Betreuung »mangelhaft«.
Opfer und Angehörige verstünden auch nicht, warum es nach wie vor keinen Strafprozess gab, sagt Teich. Dass die Schuldfrage ungeklärt sei, lasse viele Betroffene nicht zur Ruhe kommen. »Die haben niemanden, auf den sie böse sein können.« Insgesamt sehe er die Ermittlungen zum Loveparade-Unglück kritisch, betont er. »Was uns versprochen wurde - lückenlose Aufklärung - ist ein Witz.«
Es sei offenbar generell für Menschen wichtig, nach Unglücksfällen Schuldige zu finden, sagt Notfall-Psychologin Gabriele Bringer. Aus psychologischer Sicht sei dies jedoch für die Bewältigung eines schlimmen Erlebnisses meist unerheblich, wie Studien gezeigt hätten. »Wenn der Strafprozess abgeschlossen ist, merken die Betroffenen: Die Trauer ist geblieben.«
Die Staatsanwaltschaft hat zwar eine Anklage gegen zehn Mitarbeiter der Stadt Duisburg und des Loveparade-Veranstalters erhoben, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung. Nach wie vor ist jedoch offen, ob das Landgericht Duisburg überhaupt ein Hauptverfahren in der Strafsache eröffnen wird. Falls ja, dann beginne die etwaige Hauptverhandlung voraussichtlich nicht mehr dieses Jahr, heißt es beim Gericht. Das Aktenmaterial belaufe sich inzwischen auf mehr als 44 000 Seiten Hauptakte und einige Terabyte Videomaterial.
Zentrales Beweismittel ist ein Gutachten des englischen Panikforschers Keith Still. Das Verfahren verzögerte sich zuletzt auch deshalb, weil die Kammer zahlreiche Ergänzungsfragen an den Sachverständigen gerichtet hatte. Erst kürzlich wurden die Antworten ins Deutsche übersetzt.
Jörn Teich gehört zu den Loveparade-Überlebenden, er war damals gemeinsam mit seiner kleinen Tochter dabei. Nach seinen Worten sind beide bis heute traumatisiert. Im Durchschnitt meldeten sich fünf Ratsuchende pro Woche bei »LoPa 2010«, in der Zeit vor den Jahrestagen seien es stets rund zehn pro Tag, sagt Teich. Als Vorsitzender der Betroffenen-Initiative organisiert er unter anderem am Unglücksort die »Nacht der 1000 Lichter«, eine Gedenkfeier in den Stunden vor dem Katastrophentag am 24. Juli. »Für viele ist das die wichtigste Veranstaltung.« Es sei dann ganz ruhig, keine Musik, die Menschen redeten viel miteinander. Aber auch die Notfallseelsorge werde an solchen Tagen gebraucht und sei mit einem halben Dutzend Kräften vor Ort.
Wie gut ein Betroffener mit Jahrestagen fertig werde, hänge davon ab, wie er die Trauer verarbeitet habe, erklärt Psychologin Bringer. Bei einer guten Trauerarbeit hätten Angehörige inzwischen langsam Abschied genommen und akzeptiert, dass sie etwas verloren haben. Während der erste Jahrestag einer Katastrophe oft noch sehr emotional sei, sei es nach fünf Jahren von denjenigen, die mit dem Schicksalsschlag zurechtkämen, besser auszuhalten, sagt sie.
Bei einer schlecht verarbeiteten Trauer werde das Gefühl quasi »konserviert«. »Der Mensch kann dann nicht Abschied nehmen«, erläutert Bringer. Auch nach vielen Jahren sei dann die Erinnerung mit großen Emotionen verbunden. In manchen Fällen entwickelten sich auch Rachegelüste.
»Wenn jemand eine aktive Trauerarbeit geleistet hat, dann steht er realistisch da«, sagt auch Trauma-Experte Georg Pieper. Dann sei das Ereignis immer noch traurig und der Betroffene empfinde nach wie vor einen Verlust. »Aber er oder sie wird nicht - etwa durch Berichterstattung zum Jahrestag - emotional überflutet sein.« dpa/nd
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