Schattenhaus der Toleranz

Ein Bodendenkmal erinnert seit Kurzem an den großen deutschen Philosophen Moses Mendelssohn

  • Martina Jammers
  • Lesedauer: 5 Min.
Schattenhaus der Toleranz: In Mitte, dort wo vor über 250 Jahren Moses Mendelssohn wohnte und lebte, erinnert seit Kurzem ein Bodendenkmal an den großen deutschen Philosophen.

Noch rumpeln Passanten mit Rollkoffern achtlos über die zwölf Steine aus blankem Granit. Wenn ein Tourist hier die Kamera zückt, dann richtet sich die Linse gen Marienkirche oder den steil aufragenden Fernsehturm. Kaum jedoch fällt der Blick auf den Grund, den seit kurzem ein Bodendenkmal am prominenten Platz ziert. »Haus der Hoffnung« hat der israelische Künstler Micha Ullman seine neueste Arbeit genannt. Sie verweist auf jenes Gebäude in der Spandauer Straße 68, das faktisch an dieser Stelle gestanden hat - und dessen Bewohner zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Stadt zählte: Moses Mendelssohn. Dem jüdischen Philosophen gelang es, dieses Haus, das er 1762 nach seiner Heirat mit Fromet Gugenheim bezog und bis zu seinem Tode 1786 bewohnte, zu dem Zentrum der deutschen Aufklärung zu machen.

Pflegte der »deutsche Sokrates« doch an dieser Stelle regen Gedankenaustausch mit dem Dichter Gotthold Ephraim Lessing und dem Verleger Friedrich Nicolai, die übrigens beide just in diesem Hause einige Jahre zuvor selbst gewohnt hatten. Bekanntlich hat Lessing das Ideendrama »Nathan der Weise« seinem Freund Moses auf den Leib geschrieben. Auch der Schweizer Pfarrer und Physiognomiker Johann Caspar Lavater war ein häufiger Gast in der Spandauer Straße 68 und verwickelte den Hausherrn in einen leidenschaftlichen Disput. Überdies verfasste Mendelssohn in diesem Hause nicht zuletzt bahnbrechende Werke wie etwa den »Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele«. Und »Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum«, wo er zur »Toleranzpflicht« aufruft: Staat und Religion seien strikt zu trennen. Der religiöse Glaube ist individuell und darf keinem Zwang unterliegen.

Die Affinität zwischen dem Schöpfer des neuesten Berliner Denkmals und dem einstigen Hausbewohner ist kein Zufall. Wurde doch Micha Ullmann, der 1939 in Tel Aviv zur Welt kam und dessen in Thüringen lebende Eltern sogleich 1933 nach Palästina ausgewandert waren, im Jahre 2010 als erster bildender Künstler mit dem Moses-Mendelssohn-Preis ausgezeichnet. Dieser trägt den beredten Zusatz »zur Förderung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zwischen Völkern und Religionen«.

Bereits vor drei Jahren hatte Ullman - am Hochzeitstag von Moses und Fromet am 22. Juni - im Roten Rathaus sein Projekt des Hauses für Moses Mendelssohn vorgestellt. Entwickelt hat er es auf der Basis einer 1886 aufgenommenen Fotografie. Ullman hat nun die Fassade des dreistöckigen Wohnhauses gewissermaßen um 90 Grad nach vorne geklappt: Mit sieben mal 13 Metern Grundfläche bildet er die Originalmaße nach. Die zwölf Fenster werden wie auch die Haustür durch quaderförmige Granitsteine repräsentiert. Dabei spielt im Gegensatz zu den grauschwarzen Fenstern der helle Ton der Eingangstür wohl symbolisch auf den Aspekt der »Erleuchtung«, eben der »Aufklärung« an.

Integraler Bestandteil der Bodenskulptur ist die erwähnte Gedenktafel, die Ullman bis in die Typographie nachmeißeln ließ: »In diesem Hause/ lebte und wirkte Unsterbliches/ Moses Mendelssohn/Geb. in Dessau 1729. Gest. in Berlin 1786.« Bereits 1829 wurde diese Tafel am Haus Spandauer Straße 68 enthüllt. Als allerdings 1905 eine weitere Tafel für Lessing, der von 1748 bis 1751 das nämliche Haus bewohnte, angebracht wurde, musste der marmorne Hinweis mit den vergoldeten Lettern auf den beträchtlich länger hier weilenden Mendelssohn an einen »durchaus unwürdigen Platze im Hofe« weichen. Im September 2015 soll das Bodendenkmal, für welches der Senat rund 285 000 Euro gebilligt hat, offiziell übergeben werden.

»Ich sehe das Mendelssohn-Haus als Schattenbild des originalen Hauses«, erläutert Ullman, der wie kein Anderer die Kunst beherrscht, die Anwesenheit der Abwesenheit darzulegen. Dies belegt wohl keines seiner Werke schlagender als seine unterirdische Bibliothek am Bebelplatz, wo leere und weiß getünchte Regale potenziellen Platz für 20 000 Bücher böten - genau so viele, wie am 10. Mai 1933 hier verbrannt worden sind.

Ähnlich verhält es sich nun mit Ullmans Kontrafaktur von Mendelssohns Wohnhaus, welche laut ihrem nunmehr 75-jährigen Schöpfer seine letzte Arbeit in Berlins öffentlichen Raum sein soll. »Es ist zugleich da und doch nicht. Materie wird Geist! Menschen können darüber laufen und sogar versuchen, durch die Tür einzutreten«, bemerkt der israelische Künstler. Bei Regen spiegeln sich nicht allein Marienkirche und Fernsehturm in den Pfützen der Steine, sondern auch die Flaneure. »Auf diese Weise wird ein Stück Kunst Teil des Alltagslebens der Stadt. Jeder ist frei, darüber zu gehen oder nicht - ganz nach seinem freien Willen. Das Mendelssohn-Haus war ein freies Haus, in dem der freie Geist Möglichkeit wurde.« Und pointierter noch: »Das Gebetshaus der Vernunft benötigt keine verschlossenen Türen.«

Freilich kann mit der augenblicklichen Umgebung die »Weihe des Hauses« nur unvollkommen entfaltet werden, womit die Passanten oftmals Ullmans Bodendenkmal gar nicht erst registrieren und de facto dann auch gar keine Wahlmöglichkeit haben: andächtig umrunden oder spornstreichs begehen? Reichlich garstig sieht die ohnehin von perennierendem Auto- und Straßenbahnlärm umtoste Ecke Karl-Liebknecht-Straße/Spandauer Straße derzeit aus: Hinter Bauzäunen stapeln sich Haufen von Verbundpflastersteinen zur Neugestaltung des Marienplatzes, bilden das »Weichbild« zur Installation. Pinkfarbene oberirdische Grundwasserleitungen nagen schwer an der Ästhetik.

Faszinierend indes ist, dass Moses Mendelssohn genau wie wir Heutigen jenen Eindruck von der Marienkirche hatte, die im Gegensatz zum ansonsten fast vollständig vernichteten Viertel wie durch ein Wunder von den Weltkriegs-Luftangriffen auf Berlin verschont blieb. Wenn endlich zum Reformationsjubiläum 2017 sämtliche Bautrümmer abgeräumt sein werden, ergibt sich eine einmalige Konstellation an dieser sensiblen Stelle in Berlin, wo einst die Wiege der Stadt lag. Denn es ist bereits vom Senat beschlossen, dass die noch vorhandene, 1895 entstandene Luther-Skulptur bis dahin an ihrem historischen Standort vor der Westfassade der Kirche wieder aufgestellt werden soll.

Dann begegnen sich der jüdische Aufklärer und der Reformator auf Augenhöhe. Zwei gänzlich verschiedene Auffassungen von »Denkmal« werden dann zu besichtigen sein: die stolze dreieinhalb Meter hohe Standfigur Luthers, welche den finalen Punkt der pompösen Gesamtanlage bildete und damals bloß über zehn Stufen hinweg von der damaligen Kaiser-Wilhelm-Straße (heute Karl-Liebknecht-Straße) zu erreichen war, versus die prononciert zurückgenommene, nicht minder wirkungsvolle Bodenarbeit zur Symbolisierung des Hauses Mendelssohn. Erzwingt das historische Luther-Denkmal den Blick des Betrachters in die Höhe, so verlangt Ullmans Arbeit jenen in die Tiefe.

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