Sokratische Kompetenz
Über das Zulassen von Nicht-Fähigkeiten
Zum Wesen guter Ideen gehört es, dass sie immer wieder entdeckt werden. Vermutlich haben auch schon vor Sokrates kluge Menschen erkannt, wie kostbar und hilfreich es im Streit der Meinungen ist, zu wissen und zu gestehen, dass ich nichts weiß. In einer Zeitschrift für Organisationsberater tauchte jetzt diese sokratische Einsicht als »Kompetenzlosigkeits-Kompetenz« wieder auf. Sie wird als Fähigkeit gelobt, die eigenen (kulturellen) Interpretationen gerade nicht meinem Gegenüber aufzupfropfen. So werde interkultureller Dialog möglich.
Der englische Dichter John Keats schrieb kurz vor Weihnachten 1819 in einem Brief an seine Brüder: »Und mit einem Mal fiel mir auf, welche Eigenschaft den großen Mann formt, vor allem in der Literatur, und welche Shakespeare in so hohem Maß besessen hat - ich meine eine Nicht-Fähigkeit, das heißt, wenn ein Mann fähig ist, in Unsicherheiten, Geheimnissen, Zweifeln zu bestehen, ohne reizbar nach Tatsachen und Vernunftgründen zu greifen.«
Wilfred Bion hat die »negative capability« als erster in ihrer Bedeutung für die sozialen Berufe erkannt. Er beschreibt mit diesem Begriff die Fähigkeit, innere Widersprüche von Menschen aufzunehmen und zu »halten«. Wenn diese beispielsweise von einem geliebten Menschen gekränkt wurden, dann lieben und hassen sie ihn gleichzeitig, wollen ihn vernichten und gleichzeitig zwingen, es niemals wieder zu tun. Wem es nun gelingt, diese widersprüchlichen Affekte in sich aufzunehmen, der kann die Gekränkten unterstützen, den Affektsturm ohne Schaden zu überstehen.
Die negative Kompetenz gleicht in vielem dem Blick des Kindes auf die Welt der Erwachsenen. Gesunde Kinder sind neugierig und offen, sie erleben Eindrücke intensiv, mit dem Glanz des »ersten Males«, ohne Routine. Das liegt auch daran, dass sie keinen Maßstab haben, den sie anlegen, das sie weder messen wie der Techniker noch vergleichen wie der Kritiker.
Diese Betrachtungsweise wiederzufinden, ist alles andere als kinderleicht. Kinder praktizieren sie, ohne es zu wollen. Erst als Erwachsene erkennen wir den Reichtum der kindlichen Erlebnismöglichkeiten, deren Schattenseiten verdrängt haben muss, wer eine Arie komponiert wie die in Lortzings Oper »Zar und Zimmermann«: Selig oh selig ein Kind noch zu sein! Die Nicht-Fähigkeit ist gewiss nicht das große Gute, aber sie weist in vielen Situationen den Weg zum kleineren Übel, zur unvollkommenen Lösung, wo das Streben nach einer makellosen Welt in den Abbruch der Beziehung und womöglich in nackte Destruktion führt.
Da Aktionismus Angst bindet und ein Gefühl eigener Macht verleiht, fällt es Menschen in emotional aufwühlenden Situationen immer leichter, etwas zu tun, als sich einzugestehen, dass sie keine Lösung wissen. Das Wort »Kompetenz« trägt seine eigene Problematik mit sich. Es kommt von dem lateinischen competere und gibt der neutralen »Fähigkeit« den Beigeschmack von »zum Wettbewerb«. Wer Kompetenz hat, kann gewinnen.
Versuchen wir es mit einer Dreiteilung:
Vorhandene Kompetenz ist nützlich und potenziell produktiv.
Eingestandene Nicht-Kompetenz belastet das Selbstgefühl und ist potenziell produktiv.
Eingebildete Kompetenz entlastet das Selbstgefühl, ist unproduktiv und potenziell gefährlich.
Die Unfähigkeit, sich Nicht-Kompetenz einzugestehen, ist das zentrale Problem der Gegenwart. Eingebildet Kompetente »lösen« die Energieprobleme, indem sie unkalkulierbare Risiken schaffen. Sie versprechen Gläubigern, Schulden zurückzuzahlen, und Gläubigen, das Kalifat zu erneuern. Sie trauen es sich zu, einen Krieg zu gewinnen.
In Familie und Partnerschaft spiegelt sich diese Dynamik. Partner bilden sich die Kompetenz ein, ihr Gegenüber zu verändern, und erschöpfen sich in gegenseitigen Vorwürfen. Eltern bilden sich ein, sie könnten ihre Kinder nach ihren Vorstellungen formen, und verlieren den Kontakt zu ihnen. Ob es um Lehrer und Schüler, um Vorgesetzte und Mitarbeiter geht - fast immer gibt es einen Bereich echter Kompetenz. Aber dieser Bereich hat Grenzen; oft sind sie enger, als es der narzisstischen Fantasie beliebt. An dieser Grenze innezuhalten und die eigene Nicht-Fähigkeit zuzulassen, bleibt eine Aufgabe, mit der wir wohl ein Leben lang ringen werden. Denn allzu verführerisch ist es doch, den Nimbus der eigenen Kompetenz auch dort nicht aufzugeben, wo er sein Fundament verloren hat.
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