Die Härten des Alltags im Chavismus
In Venezuela hält bei vielen die Lohnentwicklung nicht annähernd mit den steigenden Preisen schritt
Ist der Dollar wieder gestiegen? Wann kommt die nächste Lieferung für den Supermarkt? Reicht der Lohn noch für den nächsten Einkauf, trotz der gestiegenen Preise? In Venezuela scheint es nur ein Thema zu geben: Die Wirtschaft, oder besser gesagt, wie der Alltag angesichts der akuten Versorgungskrise bewältigt werden kann.
Elizabeth ärgert sich darüber, dass der Parallel-Kurs des US-Dollar sich an einer Internetseite in den USA orientiert, die stündlich den angeblich aktuellen Kurs angibt. »Damit versuchen reaktionäre Kreise in Miami, unsere Wirtschaft zu torpedieren. Sie setzen den Kurs viel zu hoch an, damit bei uns die Preise in Bolívares immer schneller steigen«, grollt die pensionierte Lehrerin. Sie steht neben Enrique, der an einer belebten Straßenkreuzung in Catia, einem Stadtteil der Hauptstadt Caracas, Süßigkeiten und Zigaretten verkauft. Er hält sein Smartphone in die Höhe und zeigt die Seite dolartoday.com. »Stimmt, alle besuchen diese Website täglich«, sagt Enrique.
Die Regierung müsse dieses Problem schnellstens lösen, fordert er. »Der Dollarkurs muss freigegeben werden. Genauso muss die Regierung aufhören, bestimmte Produkte zu subventionieren«, ruft der Händler. Er sei sich bewusst, dass die Regierung mit den Subventionen vor allem die Kaufkraft der Löhne schützen wolle. Aber statt günstiger Preise für Grundnahrungsmittel würden diese einfach von Markt verschwinden, werden gehortet, über die Grenze geschmuggelt oder teuer weiterverkauft.
»Jede Woche steigt der Preis für die Arepas, für das Brot. Wir arbeiten hart, aber der Lohn reicht einfach nicht mehr.« Marco schaltet sich in die Diskussion ein. Gerade hat er bei Enrique eine Zigarette erstanden. Das Leben sei so teuer, weil alles außer Landes geschafft werde. »Wenn sie die Grenze dicht machen würden, gäbe es keine Probleme. Von jeder Schiffslieferung, die hier ankommt, geht nur ein Viertel an die Bevölkerung. Die Hälfte der Produkte verschwindet irgendwie«, berichtet Marco und gestikuliert wild mit den Armen.
Das Problem der Versorgungsengpässe ist vertrackt, und immer mehr Venezolaner sind überzeugt, dass die staatlichen Eingriffe die Schwierigkeiten derzeit nur verschlimmern. Die Subventionierung von einigen Lebensmitteln und Hygieneprodukten hat dazu geführt, dass sich lange Schlangen bilden, wenn sie an die Supermärkte geliefert werden. Ohne Anstehen sind Milch, Mehl, Windeln oder Klopapier nur auf dem Schwarzmarkt zu haben, zu einem Vielfachen des offiziellen Preises. Die anderen Produkte gibt es in den meisten Läden, aber verhältnismäßig teuer, da sie sich teilweise am Dollarkurs orientieren - nicht am staatlich kontrollierten, sondern am Parallelkurs, der mindesten 30 Mal höher liegt.
Wer keinen Zugang zu Devisen hat und auf seinen Lohn in Bolívares angewiesen ist, kann sich vieles nicht leisten. Eine Markenjeans beispielsweise kostet ohne weiteres das Doppelte des gesetzlichen Mindestlohnes. Ursache dieses Preisgefälles ist, dass Venezuela seit Jahrzehnten vom Erdölexport lebt und versäumt hat, eine eigene Industrie aufzubauen. Seit der Ölpreis auf dem Weltmarkt stark gesunken ist, kann Venezuela nicht mehr wie bislang gewohnt all das importieren, was das Land benötigt.
Seit Jahrzehnten ist Venezuelas Wirtschaft vom Öl abhängig, also ein Problem, dass nicht erst mit dem Chavismus begann. Allerdings ist es weder Hugo Chávez in 15 Regierungsjahren noch seinem 2013 gewählten Nachfolger Nicolás Maduro gelungen, eine eigenständige Industrie aufzubauen. Aufgrund des Ölreichtums ist es noch heute so, dass eine Tankladung nur wenige Bolívares kostet, für Touristen mit Devisen nur wenige Cents. »Warum setzt die Regierung keinen realistischen Benzinpreis fest?« fragt Enrique. Die Ungeduld ist ihm anzusehen. Die These, dass eine solche Maßnahme breiten Protest nach sich ziehen würde, teilt er nicht. Die Menschen seien sich durchaus bewusst, dass der Gürtel enger geschnallt werden muss und würden zur Regierung halten. »Ich halte die Wirtschaftspolitik für verfehlt, aber dies bedeutet nicht, dass ich auf Seiten der Opposition stehe«, erklärt der Straßenhändler. Die Konservativen würden doch nur kritisieren, aber keine konstruktiven Vorschläge machen. »Ich bin überzeugt, dass es uns mit dieser Regierung besser geht als mit einem Zurück in die Zeit vor Chávez«, so Enrique.
Konsens ist diese Haltung keineswegs. Vor allem diejenigen, denen die sozialistische Politik der vergangenen 15 Jahre mehr Wohlstand gebracht hat, halten nach wie vor zum Chavismus. Sie werfen den Unternehmern und der konservativen Opposition vor, für die schlechte Stimmung im Land mit verantwortlich zu sein. Doch die Zahl derer, die den Chavismus für eine Sackgasse halten, nimmt zu. Zum Beispiel die Menschenrechtlerin Liliana Ortega - sie hat die Nase voll von der Regierung. Wieder einmal kann sie nicht in ihrem Büro im Zentrum arbeiten, da der Strom im ganzen Gebäude ausgefallen ist. »Das Leben in Venezuela ist vor allem für Frauen schwierig. Das betrifft alle Besorgungen im Alltag.« Grund dafür seien die Versorgungsengpässe und die extrem hohe Verbrechensrate. »Trotz des milden Klimas ist Caracas nach sechs Uhr Abends wie ausgestorben. Die Leute haben Angst voreinander.«
Ortega findet, dass der Staat die Leute im Stich lässt. Sei es im Verkehr, der völlig chaotisch ist, oder in den schlecht organisierten Krankenhäusern oder auch den Schulen. »Überall herrscht Unordnung«, meint sie. Die Lebensqualität der Venezolaner sei stark gesunken. »Es ist doch kein Luxus, in einem Erdölland Strom und fließend Wasser zu haben. Eine Schande, dass wir mit den vielen Ressourcen des Landes nicht richtig umgehen«, erklärt Lilian Ortega und macht deutlich, dass für sie ein Regierungswechsel höchste Zeit ist.
Die Lage der Wirtschaft gibt kaum Anlass zu Optimismus. Der Haushalt wird zu über 90 Prozent aus Erlösen des Ölexports bestritten. Dementsprechend herrscht Ebbe in den Staatskassen. Ökonomen gehen davon aus, dass Venezuela ohne Hilfe von außen schon nächstes Jahr zahlungsunfähig sein könnte. Luis Zambrano, Ökonom an der Nationalen Akademie der Wirtschaftswissenschaften, plädiert für eine Kehrtwende, sieht aber große Hindernisse: »Die Inflation ist ein großes Problem, das Haushaltsdefizit ist enorm und die Handelsbilanz ist durch den Fall des Ölpreises unter Druck geraten. All dies muss korrigiert werden, doch die politische Konjunktur ist nicht hilfreich.« Die notwendigen Anpassungsmaßnahmen würden hohe politische Kosten haben, und da die Stimmung sehr polarisiert sei, schiebt die Regierung Veränderungen auf die lange Bank. »Die Regierung von Maduro ist praktisch handlungsunfähig und nicht in der Lage, wirtschaftspolitische Entscheidungen zu treffen«, schlussfolgert Zambrano.
Schon lange vor der Zuspitzung der Wirtschaftskrise hoffte die Mehrheit der wohlhabenden Venezolaner auf ein Ende der chavistischen Regierung. Vergangenes Jahr gingen Oppositionelle wochenlang auf die Straßen und forderten den Rücktritt von Präsident Nicolás Maduro. Über 40 Menschen aus allen Lagern kamen bei den teils sehr gewalttätigen Protestaktionen ums Leben. Hunderte wurden verhaftet.
Mit der Parlamentswahl im Dezember verbinden Oppositionelle die Hoffnung auf erste Veränderungen im Machtgefüge des Staates. Die Chancen dafür stehen gut, sagt Oscar Schémel, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Hinterlaces: »Derzeit kann die Opposition mit einem Wahlsieg rechnen, und zwar mit deutlichem Vorsprung. Dennoch wird die Regierung von Nicolás Maduro immer noch von rund 40 Prozent der Bevölkerung unterstützt.«
Ein Ende des Chavismus sieht der Meinungsforscher allerdings nicht kommen. Denn der Opposition fehlt es an konkreten Programmen. Sie bietet sich nach Meinung von Schémel nicht als politische Alternative an: »Der Chavismus ist mehr als eine Regierung. Er ist eine politische Kultur, eine emotionale Gemeinschaft, eine Art Klassenidentität.« Das seien Eigenschaften, über die die Opposition nicht verfügt. »Die Konservativen werden nicht aufgrund ihrer erfolgreichen Strategie gewählt, sondern von Proteststimmen.«
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