Ein Stein für Frau Stein

Großes Abenteuer Schulalltag. Szenen aus dem Leben einer Sozialarbeiterin, Lehrerin und Macherin. Von Astrid Kloock (Text) und Wolf Spillner (Bild)

  • Lesedauer: 8 Min.

Der Schulhof füllt sich. Mädchen und Jungen aus den Klassen sieben, acht, neun, zehn, elf und zwölf kommen auf den Platz. Es werden immer mehr. Alle haben einen Stein in der Hand. Die Gesichter sind freundlich, aber Steine sind Steine. Flashmob am Goethe-Gymnasium? Ramona Stein, die Schulsozialarbeiterin, soll gehen. Ihr Beschäftigungsprogramm ist abgelaufen. Aber das Gymnasium braucht sie und will sie behalten: einen Stein für Frau Stein. Viele Steine sind ein Berg. Einige sind bemalt. Die Fotogruppe um Christian Möller dokumentiert die Aktion, der NDR macht das Problem öffentlich. Eltern tragen Unterschriften ins Ministerium. Das war im Frühjahr 2011.

Vier Jahre später. Ramona Stein arbeitet am Goethe-Gymnasium Ludwigslust als Lehrerin, Schulsozialarbeiterin, Kommunikationsmanagerin. Diese Kombination ist einmalig in Mecklenburg-Vorpommern. Direktor Ekkehard Detenhoff hat das Berufsbild ausgearbeitet und überzeugend vertreten. Die Steine sind weggeräumt. Die Stein ist geblieben.

Ramona Stein ist in Riesa geboren, in Senftenberg groß geworden. »Tolle Stadt, tolles Theater, tolles Kulturleben.« Pädagogikstudium in Greifswald, die Fächer: Sport und Geschichte. »Ich hatte immer den Wunsch, Lehrerin zu werden. Für mich bedeutete das, mit Menschen umzugehen.« Ihre letzten sechs Berufsjahre an einer Regionalschule in Grabow sind nicht so glücklich. Die Schule konzentriert sich ganz auf Wissensvermittlung, Soziales rutscht hinten runter. Ramona Stein ist unzufrieden. Sie möchte manches anders machen.

In den Jahren 2007/2008 gibt es Lehrerüberschuss in Mecklenburg-Vorpommern. Das Land reagiert darauf mit einem Programm: »Lehrer ins Schulsozial-Kooperationsmanagement«. Es soll für drei bis sechs Jahre gelten. Das ist ihre Chance. Ramona Stein ist eine von 37 Lehrerinnen und Lehrern, die in einer einjährigen Fortbildung weitergebildet werden. »Unser Unterricht war hochkarätig«, sagt sie, »nach einem Jahr waren wir fit wie die Rennpferde vorm Start.« Schon nach drei Jahren kommt die Kehrtwende. Dem Land geht das Geld aus. Ein Teil der Rennpferde muss zurück in den Stall. Ramona Stein hat Glück. Das Gymnasium kämpft um seine Sozialarbeiterin. Steine für die Stein. Ein paar von den Erinnerungsstücke liegen noch in ihrem Büro.

Schulsozialarbeit in den Schulen ist notwendig wie das tägliche Brot. Jede Schule, ob Grundschule, Förderschule, Regionale Schule oder Gymnasium, kann sich um einen Sozialpädagogen bewerben. Die Nachfrage ist groß, die Stellenbesetzung noch unbefriedigend - ein dringliches Zeichen für die Landespolitik, sich für die Möglichkeit länger befristeter Arbeitsverträge einzusetzen.

Ramona Stein steht mit beiden Beinen in ihrem Traumberuf. »Ich bin 51, in der Mitte des Lebens, und kann tun, was ich mir immer gewünscht habe. Ich freue mich jeden Tag auf meine Arbeit.«

Der Schulalltag am Goethe-Gymnasium beginnt kurz nach sieben. An die 700 Jugendliche aus 87 Städten, Dörfern, Gemeinden, von mittelgroß bis pupsklein, werden dorthin gefahren, wo für die nächsten acht Stunden ihr Aufenthaltsort sein wird.

7.50 Uhr Unterrichtsbeginn. 15.30 Uhr Ende der Veranstaltung. Über Tag wird in Zeitblöcken gearbeitet. Viermal neunzig Minuten. Das ist so lange, wie ein Kinofilm läuft. Zwischen den Blöcken größere und kleinere Pausen. Der Anspruch ist hammermäßig. 700 junge Menschen, Individuen, nicht geklont, sollen miteinander möglichst störungsfrei funktionieren - aufpassen, mitmachen, sich konzentrieren, nicht rempeln, nicht prügeln, schön sein, fit sein, cool sein, Eindruck schinden. Da brennt die Luft! Wenn die 700 Kopfbetankten am späten Nachmittag wieder zu Hause sind in den 87 Städten, Dörfern, Gemeinden, von mittelgroß bis pupsklein, sind zwei Drittel des Tages gelebt. Der Rest vergeht - nicht für alle, aber für viel zu viele - virtuell. Sie sind Weltmeister im digitalen Daumenlutschen, im Umgang mit Smartphone, Facebook, Blog-Posten, aber sie sind ängstlich und hilflos im Umgang mit lebendigen Menschen, besonders dann, wenn die Menschen anders sind als sie, ausländisch, mit Handicap, genial oder doof.

Trotzdem freut sich Ramona Stein auf jeden neuen Arbeitstag. Auftrag für die Schulpädagogin ist es, eine Schullandschaft zu schaffen, in der die Schüler bei allem Block-Cluster atmen können und leben mögen. Ideen hat sie so viele wie Locken auf dem Kopf. »Man muss zuhören, was die jungen Leute bewegt, dann kommen die Ideen von selbst.« Kinder sind ohne Ende aktiv. Zwischen Lernstress, Integral und Logarithmus immer bereit, etwas zu tun. Es muss ihnen Spaß machen, und es muss freiwillig sein. Fotogruppe, Pressegruppe, Teamer-Gruppe, Spinnnachmittage … Eine bunte Schullandschaft zu organisieren, macht Arbeit. Dafür holt sich die Kommunikationsmanagerin die Hilfe ihres bewährten Netzwerkes: Amadeu-Antonio-Stiftung, Beteiligungswerkstatt, Jugendhilfe ...

Zu ihrem Pflichtprogramm gehört natürlich die Einzelfallhilfe. Unter den 700 Gymnasiasten gibt es Selbstverletzer, Essgestörte, Haare-Esser, Drogenabhängige. Oft sind es die guten Schüler, die beispielsweise nicht ohne Speed auskommen. Sie nehmen das Amphetamin nicht aus Lust, sondern gegen den Stress. Speed macht leistungsstark, hält wach. Wenn sie vor Wachheit nicht mehr schlafen können, Ängste haben, wenn die Haut aussieht wie knittriges Papier, bitten sie um Hilfe. Erst dann. »Ich möchte, dass sie so früh wie möglich den Weg zu mir finden«, sagt Ramona Stein. Sie nutzt alle Möglichkeiten ihres Handwerks. Ihr kommt zugute, dass sie auch Lehrerin ist. Sie unterrichtet Sport in den Klassen sieben bis zehn. Vor der Stunde lässt sie Mädchen und Jungen in Reihe antreten, schaut jedem ins Gesicht. Und weiß dann rasch bescheid: die hat nicht gut geschlafen, der ist heute gereizt, die ist total gut drauf. Oder: Poppige Schuhe, neue Frisur, Brüsche am Kopf. Nach dem Blickaustausch weiß sie mehr über ihre Schüler, und die Schüler haben gespürt, dass die Lehrerin sie wahrgenommen hat, jeden von ihnen. Ein Wessi hat sie wegen des Antretens eine Stalinistin genannt. No comment.

Frühjahr 2015. Die Medien berichten vom Massensterben der Flüchtlinge im Mittelmeer. Presse und Fernsehen sind voll von widersprüchlichen Nachrichten. Tote, Flüchtlingsströme, Asylanten. Die Nazis sprechen von »Überfremdung« und »Sozialschmarotzern«. Der Nachbar sagt das auch. Die Schüler fragen natürlich die Stein. Für diese Diskussion ist im Unterricht wenig Zeit. Aber die Schüler vom Goethe-Gymnasium, das den Titel trägt »Schule gegen Rassismus - Schule mit Courage«, erwarten eine Antwort. Ramona Stein ruft eine Arbeitsgemeinschaft ins Leben. 17 Mädchen und Jungen aus den Klassen sieben bis elf beschäftigen sich mit dem wichtigen Thema. Sie nennen sich - nach ihrer Lehrerin - »Die Steine«. Gemeinsam erarbeiten sie eine Fotoausstellung »Asyl ist Menschenrecht«. Die Bilder sind in den Fluren des Gymnasiums zu sehen. Damit die Bilder lebendig werden, laden sie Flüchtlinge aus dem nahe gelegenen Asylbewerberheim ein. Eine Familie aus Eritrea berichtet von ihrer Heimat und von der Flucht.

Paolo, 24 Jahre: »Wenn du fliehst, hast du kein Ziel, du willst einfach nur überleben. Der Rest spielt keine Rolle. Du versuchst, in die Nachbarstaaten zu kommen, ohne erwischt zu werden. An der Küste des Mittelmeeres wirst du in einen Raum gesperrt. Einen Monat, zwei Monate, drei Monate. Du musst warten, bis endlich ein Schlauchboot gefunden wird. Die Fahrt dauert sieben bis dreizehn Tage. Wer nicht durchhält, wird ins Wasser geworfen. Als ich schließlich nach Europa kam, wurde ich letztlich von Deutschland aufgenommen, worüber ich sehr dankbar bin.« - Danach sind alle stumm.

Was die »Steine« gehört haben, macht in der Schule die Runde. Als einige Wochen später die Nazis mitten in Ludwigslust eine Demonstration ankündigen, stehen die »Steine« mit Plakaten und Trillerpfeifen den Schwarzhemden gegenüber. Wenn alle mitgedurft hätten, die sich freiwillig gemeldet hatten, wäre das Gymnasium ziemlich leer gewesen.

Seit 16 Monaten haben die Schüler vom Goethe-Gymnasium einen neuen Freund: Emma, die schokoladenbraune Labradorhündin. Sie ist schon jetzt der absolute Stresskiller, obwohl das »Projekt Schulhund« erst beginnen soll. Ramona Stein nimmt sie mit in die Gruppen. Die Kinder lieben das Tier. Ein Junge mit autistischen Zügen, der selten spricht, setzt sich zu Emma und erzählt und erzählt. Im nächsten Jahr soll die Hündin mit in die Klassen und beispielsweise bei Klausuren durch ihre Gegenwart die Spannung aus der Luft nehmen. Direktor Ekkehard Detenhoff ist Feuer und Flamme. Er hat sich schon angemeldet, um Emma für seine Chemie- und Biostunden ausleihen zu können. Die Lehrer sind unterschiedlich erfreut.

Die Stein - sechsundzwanzig Berufsjahre, studiert in der DDR, weitergebildet im größeren Deutschland - hat immer wieder dazugelernt von den Kindern. »Unglaublich«, sagt sie, »diese jungen Leute, wie sicher sie mit komplizierten Dingen umgehen und Lösungen finden, auf die wir Erwachsene mit unseren verkrusteten Denkrastern gar nicht kämen. Andererseits brauchen sie Hilfe. Wenn man sie teilhaben lässt, nehmen sie die Hilfe auch an.« Ramona Stein ist eine Macherin. Ihre Munterkeit wirkt ansteckend. Ihre vielen blonden Locken vermitteln das Gefühl: Wo sie ist, scheint die Sonne. Sie kann auch still sein und zuhören und das, was unter vier Augen beredet wird, nicht aus der Tür lassen. Die Schülerinnen und Schüler vom Gymnasium vertrauen ihr.

Ihr Schlusswort: »Alles paletti in meinem Leben - ich bin nicht allein, habe meine Familie, meine Arbeit, Emma, mein neues Fahrrad, mein supertolles Kräuter- und Gemüsehochbeet (hat mein Mann mir gebaut!). Das gilt heute. Morgen ist ein anderer Tag. Schulsozialarbeit lässt sich in keinen Lehrplan pressen wie Mathe, Physik oder Deutsch. Sozialarbeit in der Schule muss den gesellschaftlichen Alltag auffangen. Und weil sich die Erde dreht, ist immer Bewegung. Es gibt auch Bewegung, die in die falsche Richtung läuft. Beispiel: Elternwille. In Mecklenburg-Vorpommern entscheiden die Eltern, ob ihr Kind aufs Gymnasium kommt oder nicht. Das geht mir echt gegen den Strich. Wir haben viele ›verhaltensoriginelle‹ Kinder. Die sitzen in den Klassen wie im falschen Film. In der Realschule könnten sie gute Schüler sein mit guten Noten und guten Berufschancen. Überhaupt macht mir das Elternverhalten Sorgen. Die Bereitschaft zur Mitarbeit ist so gering wie noch nie. ›Alles paletti‹ ist ein flotter Spruch. Ernsthaft übersetzt heißt das: ›Wir haben noch zu tun.‹«

Im Juli dieses Jahres wurde Ramona Stein, Lehrerin, Sozialarbeiterin, Kommunikationsmanagerin am Goethe-Gymnasium Ludwigslust, zusammen mit neun anderen als »Lehrerin des Jahres 2015« ausgezeichnet.

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