Hoher Anspruch in Buntwäsche
Albert Ostermaiers »Gemetzel« bei den Nibelungen-Festspielen in Worms
Es gibt keine intelligente Politik, weil jede Politik siegreich sein und bleiben will. Die Nibelungen zum Beispiel. Noch immer unser literarisches Grund-Buch, festgehalten darin dieses Maßlose, diese Unfähigkeit zu einem rachelosen Geschichtsdenken. Dem Stoff kleben viele Ritterrüstungen an. Klirrende Schwerter, klappernde Schwere. Die Truppe aus Burgund - oft genug eine Horde. Hervorkriechend wie aus Gräbern, Grüften, Unterwelten; so quält man sich aus Trümmern, ohne ins Freie zu gelangen; irgend eine Steinzeit entlässt ihre Wiedergänger. Was »Die Nibelungen« auch erzählen: Immer werden die Verbrechen der einen Macht durch Verweis auf die Verbrechen anderer Mächte zur Tugend erklärt - dies ist das erstickende Patt, das Politik heißt. Oder Revolution. Revolutionen kontern - insofern ist jede eine Konterrevolution; immer steht die Lehre von einem richtigen Leben am Anfang, und am Ende entfacht der falsche Tod seinen Leere-Horror. Ein Gattungsdrama, ja, und ein sehr deutsches Trauerspiel.
Seit dreizehn Jahren variieren die Wormser Nibelungen-Festspiele den Stoff. Bearbeitungen, Übermalungen, Fortschreibungen. Der Kaiserdom als steinstarke Kulisse, in mittelbarer Nähe zum Rhein, wo das Gold der Burgunder »gebunkert« sein soll. Die Ära des Intendanten Dieter Wedel ist zu Ende, seit vergangenem Sommer schlägt die Direktoren-Stunde des TV-Produzenten Nico Hoffmann, und: Eine Trilogie entsteht, Autor Albert Ostermeier legte in diesem Jahr deren ersten Teil vor - »Gemetzel«. Regie führte ein weiterer TV-Mann, Thomas Schadt.
Ostermaier (Lyriker, Dramatiker, Romancier) ist ein Sänger der Besessenen, der Aufsteiger - im bergkletternden Sinne. Denn wer die Wände hochgeht, gesteht Ekel vor jenen Anfechtungen der bürgerlichen Aufweichung, die da lauten: Sei sanft und bleibe geordnet, sei gewohnheitstreu, pflege deine Sekundärtalente aus Disziplin, mäßigem Geist und kalkulierbarem Eigensinn. Ostermaier singt das Lied der Romantik atemkühl oder pfeift den Psychotriller just dort, wo die eisigsten Nachtfröste Lust haben, eine Frau zu entkleiden. Er liebt in höllischer Wüstenhitze das Schattenreich - nicht, weil es kühlen würde, sondern weil es unterging. Nun wühlt er die mythischen Macht- und Liebesverhältnisse um, dichtet den Burgunderkönig Gunter sogar in Schwulennähe (Siegfried!), vor allem feiert er »Nibelungentreue« - das ist Treue zum Antikriegsgeist dieser Saga.
Zwei große Kampfwagen auf Rädern stehen sich, wie Tiere aus Holz, auf der Bühne vorm Dom zu Worms gegenüber. Mit Elefantenstoßzähnen bestückt der eine, der andere präsentiert als Galionszeichen einen gigantischen Totenkopf mit Dornenkrone. Burgunder und Hunnen. Noch sind beide Kolosse, Streitkarren und klobige Herrschaftssitze im Wagenburgambiente, durch eine Brücke verbunden. Noch. Zwischen den »Beinen« dieser Ungetüme die Musiker der Münchner Jazz-Metal-Band »Panzerballett«: Schlachtengemälde aus harten, jagenden, schleifenden, schreienden Tönen. Das Bühnenbild von Alexandar Denic (Castorfs Bayreuth-Partner) zeigt später eine Festtafel - getaucht in Blutfeuerschein, unterm Kronleuchter aus Totenköpfen. Die Köpfe werden rumpeln. Das Gebeinhaus: eine letzte Heimat.
Ostermaier schaltet sich in den Vorabend der Tragödie ein. Die Burgunder werden als rachetodgeweihte Gäste bei den Hunnen erwartet, dorthin zog Kriemhild bekanntlich nach dem Meuchelmord an ihrem Siegfried, sie ist verheiratet mit Hunnenkönig Etzel - und deren Sohn Ortfried betreibt nun fragend Vergangenheitsbewältigung. Aufersteht die Historie in neuen Nach-Erzählungen. Geisterstunde gleichsam. Gespenstersonate. Und Ortfried als Merkzeichen: Nichts geschah, wie es überliefert wird. Die alten Germanengeschichte als Gleichnis: Wer geschichtliche Gesetzlichkeit beschwört, der verschleiert nur, was tatsächlich die Welt bewegt: Willkür - jedes historische Ereignis hat Momente, in denen alles hätte ganz anders kommen können. Also Vorsicht vor Denkmodellen - jede politische Planung muss wissen: Gehandelt wird stets in offenes, unberechenbares Gelände hinein. Vorgestanzte Strategie in Parteikreisen, die sich dazu noch für offen halten, ist so kreuzgefährlich wie lächerlich.
Ostermaier schrieb ein Denkstück. Das Denken drängt auch auf leise Töne - aber die Bühne in Worms pocht mit ihren Mikroports naturgemäß auf Lautstärke. Aufführungen früherer Jahre bewiesen: Jene dramaturgische Grobheit, die das Freilichttheater fordert, dieser Zwang zu klarer, körniger Spielweise muss kein Gegensatz zu eindringlichem Schauspiel sein. Da ist Schadt noch sehr im Aufbaustadium. Dreizehn Akteure: Wohllaut, Wucht, weite Atemwürfe, ja. Aber eher ein Eindruck von flächigem Panorama als von plastischen Charakteren. Und Alina Levshin als Ortlieb hat wenig Chancen, aus ihrem Fragezentrum (»Wer schlug denn nun wen tot?«) wirklich zu einem Mittelpunkt vorzustoßen. Dieser Mittelpunkt: Ein Fast-noch-Kind, das alles neu aufrollt - und das für den schönen Widerspruch steht, der in jeder Unschuld lodert: Kein höheres Wesen rettet uns, sondern das, was am schwächsten ist - alles Schutzlose. Eine Rettungsart, die Sehnsucht bleibt, unerfüllt.
Eine Tanzkompagnie (Choreographie: Ted Stoffel) bedient gespreizt, bemüht die Rückblendenfunktion für Ortliebs Drängen: Erzählt mir, was bisher geschah; erzählt mir vor allem, wie Siegfried starb! Der betreibt Luftakrobatik an Seilen: ein eitler Turnergeist, als Held eine Luftnummer. Maik Solbachs kommentierender Narr überzeugt als bissiger Philosoph unseres Gattungsmerkmals: Es gehört zum Menschen, dass ihn das Verruchte besonders sinnsüchtig macht. Ethos, Räson, Loyalität - das alles gebiert seit Urzeiten Methoden dafür, wie am kräftigsten blind unterzugehen sei. Terror und Ethik sind Brüder, lacht dieser Narr zynisch. Eine starke Szene - auf der Brücke zwischen den Wagenkolossen - haben Judith Rosmair als Kriemhild und Catrin Striebeck als Brünhild: ein peinigendes Anklageduell um den (im Stück gestrichenen) Siegfried, der nur eine Fantasiegestalt erotischer Trancen und eingebildeter Eroberungskräfte bleibt. Für diese Frauen hier, die nur leben, lieben wollen, die aber die im Gefängnis ihrer Neurosen gar nicht mehr wissen, was Leben, was Liebe sein könnte. Seelenwundzerriebene, im Flehen schmachtend und im Rechtfertigungstrieb von einem ledernen, federnden Trotz. Durchzuckt von Empfindungs- und Erinnerungsstößen einer tragischen Schuldexistenz und eines verirrten Begehrens.
Freilufttheater will Schauwert (der Hagen von Max Urlacher rauscht - wenig originell - mit Quadbike durch die Szene), Ostermaier aber fragt nach Werten hinter der Show, und Regisseur Schadt spielt zwischen beiden Polen auf Unentschieden. Das ist kühn: Text für den Tiefraum, nicht nur Worthall für die Breitwand. Die zeigt folgerichtig ihre Sabotagekraft, sie zerrt das Stück gleichsam in Fransen, lässt es irgendwie ausfasern. Als müsse bestraft werden, dass Ostermaier kein Autor für Rathen, Ralswiek oder Bad Segeberg ist. Und leider sind da die Kostüme von Jana Findeklee und Joki Tewes: Kledage zwischen »Batman« und »Star Wars« und »Enterprise«, Aufzug zwischen Wikingerplump und Walkürenpomp, zum Schluss noch Brünhilds Sprengstoffgürtel als wirklich letzter modischer Aktualitätsschrei - es herrscht eine derartige Mischungsanarchie aus Fell und Fummel, aus Uniform und Urzeit, aus Trikot und Tartarenlook und Trapperzeug, dass es einem vor den Augen flimmert. Und das Bild da unten vorm Dom immer irgendwie wegläuft. Trotz so wirkungsmächtiger Kulisse - Blicke hochwärts zu den nachtdunklen Ornamenten eines Doms: Da spürst du schon den kalten Hauch der Jahrhunderte, und wie die Macht zu Stein gerann, im Stein erstarb und wie die Ewigkeit herunterschaut und sie in allen Wesen, die da heftig, lustvoll, hoffend leben, doch nur die künftig Toten sieht. Schauder.
Kurzum: Es wäre gut, wenn Thomas Schadt im nächsten Jahr den farbigen Anspruch eines Albert Ostermaier nicht wieder in gar so viel Buntwäsche im TV-Serien-Sud steckte.
Vorstellungen bis 16. August
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