Sie wollen nur die Wahrheit
Die Frauen aus der Comuna 13 in Medellín in Kolumbien erhoffen sich von der Suche nach Verschwundenen auf einer Müllkippe Aufschluss über das Schicksal ihrer Angehörigen
Es könnte der Anfang vom Ende einer langen Suche sein. Beschwerlichen Schrittes und von der Hoffnung auf Wahrheit angetrieben, stapfen die Frauen einer Anhöhe entgegen. In der Nacht zuvor hat es geregnet und die Wege auf der «Escombrera», einer 75 Hektar großen Schutthalde auf einem Hügel hoch über Medellin, sind heute besonders schlammig. Für das, was an diesem Tag beginnen soll, haben die Frauen mehr als ein Jahrzehnt gekämpft.
Nun endlich starten die Sonderermittler der Staatsanwaltschaft die Suche nach sterblichen Überresten, die hier unter dem Bauschutt vergraben sein sollen. Söhne, Ehemänner, Geschwister: Sie alle waren Bewohner des 13. Stadtbezirks von Medellín, der Comuna 13. Sie alle verschwanden spurlos, die meisten im Oktober 2002 im Rahmen der Militäroperation Orión. Damals riegelte das Militär die gesamte Comuna ab und drang mit mehr als 3000 Soldaten und schwerem Kriegsgerät ein, um diese «zu befrieden», wie es offiziell hieß. Der Bezirk im äußersten Westen der Stadt galt als Hort der städtischen Guerillamilizen. Damit sollte Schluss sein, hatte der rechte Hardliner Álvaro Uribe beschlossen, der wenige Monate zuvor das Präsidentenamt übernommen hatte.
Die Operation Orión war der Auftakt zu seiner umstrittenen Politik der Demokratischen Sicherheit, mit der in den darauf folgenden Jahren die Guerilla bekämpft wurde, der aber auch Tausende unschuldige Zivilisten unter dem Vorwurf zum Opfer fallen sollten, Unterstützer der Guerilla zu sein. Geholfen haben dem Militär dabei in zahlreichen Fällen auch paramilitärische Todesschwadronen. Auch in der Comuna 13. Mehrere mittlerweile demobilisierte Paramilitärs haben in den vergangenen Jahren detailliert über die Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften und ihr Vorgehen gegen die Bewohner der Comuna ausgesagt. Nachdem die Operation beendet war, übernahmen sie die Kontrolle. Jetzt hatten sie das Sagen in der «13», die laut Experten auch für den Drogenhandel von strategischer Bedeutung ist, denn sie ist das westliche Eingangstor nach Medellín und liegt an der Ausfallstraße zur Hafenstadt Turbo, wo nicht nur tonnenweise Bananen, sondern auch Drogen in die ganze Welt verschifft werden. Die «Paras» kontrollierten das soziale Leben. Sie töteten jeden, der angeblich zum Netzwerk der Guerilla gehörte und warfen viele der Leichen auf die nahegelegene Schutthalde. Wie viele? Die Behörden schätzen die Zahl auf rund 80 Personen, Menschenrechtsorganisationen sprechen von möglicherweise mehreren hundert Kadavern. Es könnte das größte urbane Massengrab der Welt sein.
Hier könnte auch Juan Camilo Bedoya liegen, hofft seine Tante Blanca Nubia Correa. «Er ist nur zu einem kleinen Geschäft gegangen, wenige Meter von unserem Haus entfernt», erzählt sie. «Manche wollen gesehen haben, wie sie ihn in einem Auto mitgenommen haben.» «Mitgenommen werden», das ist in der Comuna 13, ja in ganz Kolumbien, zum Synonym für ein besonders perfides Verbrechen geworden, das im Juristensprech als «erzwungenes Verschwinden» bezeichnet wird. Eine bewusste Strategie der Paramilitärs, um die Bevölkerung in Angst zu versetzen und damit zum Schweigen zu zwingen. Mehr als 156 000 Menschen sind laut Angaben des Nationalen Opferregisters in den vergangenen drei Jahrzehnten Opfer dieser Praxis geworden.
Blanca Correa und ihre Schwester Cielo Bedoya hoffen, dass die sterblichen Überreste von Juan Camilo gefunden werden. Dann hätten all die Jahre ihrer rastlosen Suche endlich ein Ende. «Frag nicht weiter», haben uns die Paramilitärs gesagt, wenn wir uns bei ihnen nach ihm erkundigt haben«, erzählt Blanca.
Die Ungewissheit zermürbt sie und die anderen Frauen der Selbsthilfegruppe. Sie erzählen davon, wie sie krank geworden sind durch den Kummer und wie sie heute morgen mit Schmerzen im ganzen Körper aufgewacht sind. Die Hoffnung, ihre Angehörigen lebend zu finden, habe sie aufgegeben. Was bleibt, ist der Wunsch, die sterblichen Überreste beisetzen zu können, damit auch sie ihre Ruhe wiederfinden.
Der Mann, der ihnen diese bringen soll, heißt John Fredy Ramírez und ist Kriminaltechniker der staatsanwaltschaftlichen Einheit CTI, Spezialgebiet Massengräber. Ramírez hat Erfahrung damit, sterbliche Überreste auszugraben. Dank der Aussagen von ehemaligen Paramilitärs sind im ganzen Land in den vergangenen Jahren Massengräber ausgehoben worden. Die Aufgabe der Kriminaltechniker besteht jedoch nicht nur darin, die Knochen zu finden und per DNA-Abgleich zuzuordnen. Sie müssen auch den verzweifelten Angehörigen das Vorgehen des Teams genau erklären. Für die Frauen der Comuna 13 hat Ramírez eigens einen Spielzeugbagger mitgebracht. Mit klaren Worten und ausladenden Gesten erläutert er den kritisch zuhörenden Frauen Schritt für Schritt das geplante Vorgehen. 24 000 Kubikmeter Bauschutt werden er und sein Team in den kommenden fünf Monaten in jenem Teil der Schutthalde bewegen, wo die meisten Leichen vermutet werden. Dazu haben sie das Areal in mehrere Quadrate aufgeteilt, in denen der Schutt nacheinander abgetragen und dann von Spezialisten nach Knochen untersucht werden soll.
»Es ist wichtig, dass wir nun endlich mit der Suche beginnen können«, sagt Ramírez zu den Frauen. »Aber es wird dauern, bis wir etwas finden werden. Deshalb bitte ich euch: Habt Geduld!« »Geduld?«, wirft eine der Frauen mit Hohn in der Stimme ein. »Wir haben 13 Jahre lang gewartet ...«
Es war ein langwieriger Kampf, den die Gruppe ausgefochten hat. Mit Unterstützung einer katholischen Ordensschwester haben sie sich im Laufe der Jahre zusammengefunden, gemeinsam die Suche fortgesetzt und in der Gruppe versucht, ihre Beklemmung und Angst zu überwinden. Und bei den Behörden vorgesprochen: »Beginnt endlich damit, die Kadaver in der ›Escombrera‹ zu exhumieren!« Es war bekannt, dass die Paras und später ihre Nachfolgeorganisationen, die sogenannten kriminellen Banden, die Leichen auf der Schutthalde entsorgten. Nicht nur jene der Comuna 13, sondern aus ganz Medellín.
Seit die Behörden entschieden haben, mit der Aushebung anzufangen, kommen täglich Menschen aus anderen Teilen der Stadt zur Halde. Sie wissen nicht viel über das Schicksal ihrer Angehörigen, meist haben sie nur davon gehört, dass die Leiche auf die »Escombrera« geworfen worden sei. Auch jetzt nähert sich schüchtern eine ältere Dame mit ihrer Tochter dem Eingang. Sie suchen nach ihrem Sohn und Bruder, der 2006 in einem anderen Stadtviertel verschwand. In der Hand haben sie nicht mehr als ein Bild des Verschwundenen und einen kleinen Stapel Blätter: Es ist die Kopie der Anzeige, die sie vor langer Zeit bei der Staatsanwaltschaft aufgegeben haben. Auch bei ihnen ist es so wie in den meisten Fällen der Verschwundenen: Irgendwann wird das Verfahren archiviert. Keine Leiche, keine Ermittlungen, kein Begräbnis.
Unterstützung finden die beiden Frauen beim Menschenrechtsbüro »Corporación Jurídica Libertad«, das Opfer staatlicher Verbrechen dabei unterstützt, dass das ihnen ergangenen Unrecht aufgeklärt wird.
Ein Teil der Arbeit besteht darin, den Opfern zu helfen. So hat das Büro unter anderem psychische Betreuung und medizinische Versorgung organisiert. Ein anderer Teil ist der juristische Streit. Denn wie in so viele Fällen, in denen sich staatliche Sicherheitskräfte schwerer Menschenrechtsverbrechen schuldig gemacht haben, gehen auch in diesem Fall die Täter meist straffrei aus. Der General außer Dienst und ehemaliger Oberbefehlshaber der Armee, Mario Montoya, war Kommandant der in Medellín ansässigen vierten Brigade der Armee und leitete die Operation Orión. Obwohl demobilisierte Paramilitärs detailliert über die enge Zusammenarbeit mit den Streitkräften bei der Vorbereitung und Durchführung ausgesagt haben, hätten die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen bis heute nicht zur Aufnahme eines Strafverfahrens geführt, erklärt Adriana Arboleda, Anwältin bei der »Corporación Jurídica Libertad«. »Wir mussten sogar einklagen, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufnimmt. Diese stehen auch 13 Jahre nach der Operation Orión noch am Anfang«, sagt Arboleda. Für die Frauen von der Comuna 13 aber ist die juristische Aufarbeitung weniger wichtig. Sie wollen nur eins: Die Wahrheit. Damit ihre Suche endlich zu Ende ist.
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