Der atomare Wahn findet kein Ende
Eine neue Initiative will den Stillstand im nuklearen Abrüstungsprozess überwinden
Das erste Atomwaffenopfer, dem ich persönlich einst als junger Mediziner begegnete, war weiß, blond und hieß Claudia. Sie stammte aus der Atomtestregion in Nevada (USA) und hatte ihre Familie durch die Folgen der Atomtests verloren. Die furchtbaren Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki haben Hunderttausende das Leben gekostet. Doch sie sind keine rein historischen Ereignisse. Bis heute beeinträchtigt das Atomzeitalter das Leben von Menschen in vielen verstrahlten Regionen des Planeten.
Aber damit nicht genug: Klimaforscher und Ärzte der IPPNW haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass ein Atomkrieg heute zu Temperaturstürzen führen würde, die es seit der Eiszeit nicht gegeben hat. Selbst regional eingesetzte Atomwaffen, beispielsweise in Indien und Pakistan, hätten globale Folgen und würden das Leben von bis zu zwei Milliarden Menschen bedrohen. Ein unfallbedingter Abschuss einer einzigen US-Trident-Rakete hätte den gleichen Effekt.
70 Jahre nach Hiroshima ist die Lage kritisch. US-Präsident Barack Obama hat sich die Zustimmung des US-Kongresses zu der letzten Abrüstungsvereinbarung mit Russland im Rahmen des bilateralen START-Prozesses mit Zugeständnissen zu weitreichenden atomaren Aufrüstungsprogrammen erkauft. In Deutschland und Europa sollen die US-amerikanischen B61-Atombomben demnächst durch leistungsstärkere Waffen ersetzt werden. Leider sind vor allem die NATO-Staaten beinahe ungebremst wesentlicher Motor atomarer Aufrüstung. Auch Russland setzt falsche Signale mit Plänen, seine gesamten Atomwaffenstreitkräfte zu erneuern - von den U-Booten bis hin zu Langstreckenraketen.
Durch die Ukraine-Krise hat die Zusammenarbeit zwischen den USA und Russland erheblichen Schaden genommen. Hier darf die derzeit noch bestehende Kooperation zum START-Vertrag und zu Rüstungskontrollmaßnahmen nicht weiter reduziert werden. Stattdessen müssen vertrauensbildende Maßnahmen zu Vertragskontrollen wieder ausgebaut werden. Sonst ist der Fortbestand der Verbote bestehender Abkommen bedroht, zum Beispiel der INF-Vertrag zu atomaren Mittelstreckenwaffen.
In der Abrüstung herrscht schon seit langem Stillstand. Im Mai ist in New York die wichtige vierwöchige Abrüstungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag ergebnislos zu Ende gegangen. Aber es gibt auch positive Signale: Mehr als 110 Staaten unterstützen heute die durch die österreichische Regierung initiierte Selbstverpflichtung »Humanitarian Pledge«, mit der die Regierungen ein Bekenntnis abgeben, umgehend Schritte zur Ächtung und Abschaffung von Atomwaffen einzuleiten. Die Bundesregierung wäre gut beraten, den Prozess aktiv zu unterstützen.
Zivilgesellschaftliche Organisationen wie die IPPNW oder ICAN mit vielen jungen Aktivisten haben gemeinsam mit dem Internationalen Roten Kreuz den Weg für diese Impulse bereitet. Durch die neue Kooperation kann der notwendige politische Druck erzeugt werden, die Abrüstung von Atomwaffen zum gesellschaftlichen Thema zu machen. Ziel muss sein, die schon heute bestehende internationale Verpflichtung zur Abschaffung von Atomwaffen in eine konkretere Vertragsverpflichtung zu bringen, die Atomwaffeneinsätze ächtet und letztlich die konkreten Abrüstungsmaßnahmen überprüfbar, verbindlich und in einem festen Zeitrahmen regelt.
Auch setzt die jüngste Vereinbarung zur atomaren Rüstungskontrolle mit Iran ein positives Signal in der ganzen Region, mit dem die durchaus vorhandenen Kontrollmechanismen zu allen Massenvernichtungswaffen einschließlich der Bio- und Chemiewaffen wieder gestärkt werden. Gelingt ein nachhaltiger konstruktiver Dialog mit Iran, könnte auch das bislang isolierte Israel in einen Abrüstungsprozess eingebunden werden.
Die berühmte Atomkriegsuhr wurde 2015 um zwei Minuten auf drei Minuten vor zwölf vorgestellt. Die Toten von Hiroshima und Nagasaki mahnen uns auch heute nachdrücklich: Schafft Atomwaffen endlich ab!
Dr. med. Lars Pohlmeier ist niedergelassener Arzt in Bremen und ehemaliger Vorsitzender der internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW).
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